Der Kuss des Werwolfs - 1
während Dalton sich anschickte, den Folianten vom Boden aufzuheben.
Lady Ianthe saß auf einem Sofa und betrachtete das Porträt des Earls, das zwischen den Fenstern hing. Bei Rhodrys Eintreten sprang sie auf und knickste.
»Lady Ianthe aus Edinburgh.« Rhodry zog ihre Hand an seine Lippen. »Ihr müsst hergeflogen sein.«
Sie trug nicht die bei weiblichen Werwölfen übliche Reitkleidung mit Hosen und Stiefeln, sondern ein Kleid aus maisgelbem Organza, dessen Taille unter dem Busen angesetzt war. Sie sah vornehm aus, obwohl ihre Fingernägel kurz und brüchig waren und das Haar nur nachlässig zu einem Knoten aufgesteckt war, als hätte sie es in aller Eile selbst getan. Rhodry kannte sie seit über einhundert Jahren und schenkte ihr ein zerstreutes Lächeln.
»Ich bin aufgebrochen, gleich nachdem ich Euren Brief erhalten habe. Ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Ihr wieder unter uns weilt, Mylord.« Ihr Busen hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen.
»Ich bin es in eigener Person.« Er verneigte sich mit übertriebener Grazie vor ihr.
»Auf dem Weg hierher nahe Stirling kam ich am >Fat Cat Inn< vorbei und roch Werwölfe. Im Schutz der Nacht schlich ich hin und spähte durch ein Fenster. Maksym Derenski und seine Schergen hielten sich dort auf.«
»Was haben sie getan?«
»Wein getrunken.«
»Der Hundesohn ist also noch hier.« Wut funkelte aus Rhodrys Augen, aber als sein Blick Ianthe streifte, wurde seine Miene wieder freundlicher. »Hast du noch etwas in Erfahrung gebracht?«
»Leider nein, Mylord. Ich habe mich nicht unter sie getraut. Es wird jedoch nicht ewig dauern, bis er erfährt, dass Eure Bannung durchbrochen wurde. Möglich, dass er es schon weiß.«
Der Earl of Shavick hielt ihren Blick fest. Woher wusste sie von der Bannung? Unter den Mitgliedern des Schottlandrudels hatte er für tot gegolten, das wusste er von Eugene. Spielte sie falsch? Da sie eine Werwölfin war, konnte er ihren Geist nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen, wie es ihm bei einem Menschen ein Leichtes gewesen wäre.
Nola, schoss es ihm dann durch den Kopf. Wenn Ianthe die Wahrheit sagte und Derenski auf dem Weg hierher war, war Nola in Gefahr. Wo war sie? Er musste sie sehen - sofort.
»Lady Ianthe, entschuldigt mich!« Er stürzte aus dem Morgensalon und zu ihrem Zimmer. Doch als er an ihre Tür klopfte, antwortete ihm niemand. Er riss sie auf und stürzte in den Raum — Nola war nicht da.
Kopflos rannte er durch Shavick Castle und fragte jeden, dem er begegnete, nach ihr, schaute in jedes Zimmer. Nirgends war sie, niemand hatte sie gesehen. Ganz kurz kam ihm der Gedanke, sie könnte Derenski bereits in die Arme gefallen sein, doch er verwarf ihn wieder. Derenski hatte das Schottlandrudel ein Mal überrascht, ein zweites Mal würde ihm das nicht gelingen. Aber wo war Nola?
Rhodry sprang mit einem Satz die Außentreppe in den Hof hinunter und rannte zu den Stallungen. Die Pferde wurden sofort unruhig, als er eintrat, und ein Stallbursche eilte ihm entgegen. Er hatte Nola auch nicht gesehen, also lief Rhodry zurück in den Hof und schaute sich um. Jetzt konnte sie nur noch im Park sein.
Dann allerdings fiel sein Blick auf den Turm — und tatsächlich, dort stand sie, auf der höchsten Spitze von Shavick Castle und blickte in die Ferne. Seine Erleichterung fiel wie eine Lawine von ihm ab. Er rannte zum Turmeingang und die Treppen hinauf.
Nola schaute über den See auf die Berge. Ein frischer Wind zerrte immer mehr Strähnen aus der Frisur, die ihre neue Zofe Jane ihr heute Morgen gezaubert hatte. Sie hatte inzwischen nicht nur eine Zofe, sondern zwei weitere Kleider erhalten, ein weißes und ein veilchenfarbenes mit einem dazu passenden Mantel. Letzteres trug sie jetzt. Der Mantel hatte einen Fellkragen, der ihren Hals wärmte, doch der Wind fand jede noch so kleine Öffnung an den Ärmeln und zwischen den Knöpfen. Kein Vergleich mit der Funktionswetterkleidung des 21. Jahrhunderts.
Trotzdem fühlte sie sich heute zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Jahr 1818 richtig wohl. Das mochte an den majestätischen Bergen liegen, die sich vor ihren Augen erhoben. Schroff, kahl und doch wunderschön standen sie in der klaren Frühlingsluft. Sie klemmte sich die losen Haarsträhnen hinters Ohr. Der Wind löste sie sofort wieder.
»Nola.«
Sie wirbelte herum. Rhodry stand hinter ihr auf der Turmplattform, wieder nur in Hemd und Weste. Der Wind riss auch an seinem Haar.
»Ich habe dich überall
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