Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
keine Zeit, eingehender darüber nachzudenken. Das Glockenläuten war kein gewöhnliches Geräusch gewesen, sondern ein Warnsignal, das besagte, dass die Schutzmagie, die über der Insel und dem küstennahen Wasser lag, soeben zerstört worden war. Nicht durchbrochen oder außer Kraft gesetzt, sondern zerstört.
Jemand hatte gerade einen mächtigen Zauber aktiviert, mittels einer Art von Magie, die nicht die Handschrift der Bewohner von Nightfall trug. Es gab drei mögliche Urheber, da die Brüder drei potenzielle oder offene Feinde hatten: die Mandariter, die Morganen aufgrund mangelnder magischer Fähigkeiten ausschloss; den Rat der Magier, der zwar über die nötige Macht verfügte, es aber kaum für nötig erachten würde, so viel Energie an die acht Verbannten zu verschwenden – und der gute Onkel Broger, der ihn und seine Brüder aus irgendeinem Grund abgrundtief hasste – was auch immer das für ein Grund sein mochte.
Morganen konzentrierte sich darauf, den Spiegel fertigzustellen. Ihnen würde keine Zeit mehr bleiben, noch weitere anzufertigen, aber ein paar Minuten würden reichen, um diesen hier für die bevorstehende Invasion vorzubereiten. Onkelchen Donnock hatte seinen Bruder scheinbar schneller erreicht als erwartet.
Wolfer machte sich nicht die Mühe, das Tor zu öffnen. Er sprang in die Höhe, verwandelte sich und schwebte in seiner einzigen Vogelgestalt über die Mauer. Die Furcht vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff ließ ihn seine Höhenangst überwinden. Er schoss auf das Gebäude am Fuß des südöstlichsten Turms zu und flog hinein. Seine Brüder arbeiteten gerade an einem magischen Spiegel. Wolfer landete flatternd auf dem Boden, nahm wieder Menschengestalt an und holte tief Atem, um seine Botschaft keuchend hervorzustoßen. »Broger …«
»… ist hier«, beendete Morganen den Satz für ihn, während er Trevan half, den Spiegel zu rahmen.
»Er hat …«, schnaufte Wolfer.
»… seine Monster mitgebracht«, fuhr der Jüngste an seiner Stelle fort.
Wolfer, der immer noch Mühe hatte, nach Atem zu ringen und zugleich zu sprechen, runzelte die Stirn. »Alys ist geblieben und hat sich verwandelt …«
»Und hat eine Gestalt angenommen, die es ihr hoffentlich ermöglicht, unerkannt so viel Schaden wie möglich anzurichten oder ihren Onkel und seine Bestien wenigstens im Auge zu behalten«, vermutete Morganen.
»Würdest du bitte damit aufhören?«, knurrte Wolfer, dabei funkelte er seinen jüngsten Bruder finster an. »Du bist kein Seher, Morg!«
»Nein, nur sehr intelligent. Hast du gesehen, auf welche Weise und wo genau er hier angekommen ist«, fragte Morganen, als Saber, der zur Fertigstellung des Spiegels nicht mehr gebraucht wurde, aus dem Gebäude huschte. Kurz darauf erklang seine Stimme; er sang Evanor eine Warnung zu und bat ihn, auf seine Frau achtzugeben.
»Auf dem Dock. In einer Art Runenkreis. Es war ein orangerotes Feuer. Er hat auch Donnock of Devries umgebracht«, fügte Wolfer atemlos hinzu. »Hatte seinen Leichnam bei sich.«
»Bei Jingas stinkenden Exkrementen!«
Der vulgäre Fluch ließ die anderen im Raum zusammenzucken. Morganen überließ Trevan den Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, wobei das Stirnband verrutschte, das verhindern sollte, dass ihm bei der Arbeit Schweiß in die Augen rann. Dann begann er, rastlos im Raum auf und ab zu gehen, was dem gewöhnlich so gleichmütigen und gelassenen Magier gar nicht ähnlich sah.
»Was ist denn?«, fragte Koranen seinen Zwilling, während er mit ausgestreckter Hand das Schmiedefeuer löschte.
»Er hat ein Dunkles Tor geschaffen. Wir müssen das Dock reinigen, neu weihen und dann zerstören.« Wieder stieß Morganen einen Fluch aus. »Jingas Eier!«
»Ein was?«, fragte Wolfer verwirrt.
»Ein Dunkles Tor – ein Weg durch den Äther, den ein Magier mit einer schwarzen Seele erschaffen kann, indem er jemanden tötet, der an der Stelle gewesen ist, wo die Pforte geöffnet werden soll«, erklärte Morganen. »Das meinte er, als er sagte, Donnocks Leben sei jetzt wertvoll für ihn – weil Donnock unser Dock betreten hat – aber davon später«, winkte er ab, als die anderen ihn verwirrt anstarrten. »Wenn diese Pforte nicht schnell und sorgfältig versiegelt wird, entsteht in dem Schleier zwischen den Welten eine Schwachstelle. Je intensiver das dargebrachte Opfer ist, desto stärker schwächt es die Grenzen. Der Mord an einem nahen Verwandten bedeutet, dass auf diesem Dock ein Tor zu
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