Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
gehen?«, fragte einer der Wächter seinen Kommandanten.
»Nein, sie ist tot.« Der Anführer hielt eine in Silber gefasste Glaskugel in die Höhe. Das Glas hatte sich schwarz verfärbt, wofür Alys zutiefst dankbar war – der greifbare Beweis dafür, dass der schmerzhafte Trennungszauber des Amuletts in ihrer Brust gewirkt hatte. »Das hier hätte uns zu ihr geführt, aber es blitzt nicht mehr, wenn ich es aktiviere. Daher muss das Mädchen tot sein.«
»Ich freue mich nicht gerade darauf, unserem Herrn berichten zu müssen, was geschehen ist.«
Nein, er wird alles andere als erfreut sein – er hat seine Handelsware, seinen erwarteten Reichtum und sein Land verloren, nur weil mir die Flucht geglückt ist. Alys zwang sich zur Ruhe. Sie konnte ihren triumphierenden Gedanken in keinem Freudenschrei Luft machen, denn sie durfte nicht zulassen, dass die Männer sie sahen; sie vermochte zwar ihre Gestalt zu verändern, nicht aber ihre Farben, und ihr dunkelblondes Haar würde in Form von Federn, Schuppen oder Fell immer goldbraun schimmern, genau wie ihre Augen grau bleiben würden, ob sie nun vorquollen wie die eines Fisches oder geschlitzt wie die einer Katze waren. Um das zu ändern hätte sie einen Illusionszauber anwenden müssen, den jeder Mensch mit magischen Fähigkeiten sofort bemerkt hätte.
Jetzt hielt sie nichts länger hier. Alys hatte die Bestätigung dafür, dass das Amulett unter den Federn, die ihre Brust bedeckten, seinen Zweck erfüllt hatte. Geräuschlos erhob sie sich in die Luft, orientierte sich an den Sternen und wandte sich Richtung Osten. Zuerst würde sie ein paar Stunden fliegen, bis sie außer Reichweite möglicher Verfolger war, und sich dann einen sicheren Platz suchen, um bis zum Morgengrauen zu schlafen. Vor ihr lag ein sehr langer Weg, wenn sie die östliche Küste erreichen wollte.
Wolfer schritt, den Blick gen Westen und auf die Wellen des östlichen Ozeans gerichtet, auf der Brustwehr auf und ab. Irgendwo dort draußen war sein nächstjüngerer Bruder Dominor, der von den Frauen hassenden, der Magie nicht mächtigen Mandaritern entführt worden war, weil diese sich seine magischen Fähigkeiten zunutze machen wollten. Bislang hatte Dominor auf die Rufe, die Evanor durch den magischen Äther ihrer Welt geschickt hatte, noch nicht geantwortet, und seine Brüder ahnten Böses.
Vier Tage waren verstrichen. Vier Tage ohne ein Wort, vier Tage ungeduldigen Wartens darauf, ob es Dom irgendwie gelungen war, vom Schiff der Mandariter zu entkommen. Vier Tage voller Gebete zu Jinga und Kata, dass Evanor ihnen nicht durch die Verbindung, die die vier Zwillingspaare hergestellt hatten, vom Tod seines Zwillings berichten musste. Wolfer ertappte sich dabei, dass er ein Knurren von sich gab bei der Vorstellung, seine Gestalt zu ändern und die Kehle des verräterischen Lord Aragol mit Klauen und Fängen zu zerfleischen, und betastete das geflochtene Band an seinem Handgelenk.
Es gibt auch gute Menschen , ermahnte er sich, sacht über das Band reibend. Sacht, obwohl die Besitzerin des Haars einen Zauber hineingeflochten hatte, der bewirkte, dass es weder zerfranste noch verloren ging. Wie gewöhnlich, wenn er sich mittels ihres Bandes beruhigte, stellte er sich dabei die junge Alys of Devries vor, die Tochter eines Freisassen, der in der Nähe des Corvis-Landes gelebt hatte. Nach dessen Tod war sie mit ihrem Onkel Broger weggezogen. Auch seinem angeheirateten Onkel, aber diese Vorstellung behagte ihm nicht. Er hatte schon immer eine tiefe Abneigung gegen diesen Mann gehegt.
Wie alt war Alys jetzt – vierundzwanzig? Er war neunundzwanzig und sie fünf Jahre jünger als er und sein Zwilling Saber. Vermutlich verheiratet und mit Kindern am Rockzipfel. Bestimmt eine gute Mutter. Aber es fiel ihm schwer, sie als Ehefrau irgendeines Mannes zu sehen. Nicht Alys, sie würde ihm zwischen die Beine treten … oder einfach weglaufen.
Es war der Gegensatz zwischen diesen beiden möglichen Reaktionen, der ihn erst verwirrt, dann verärgert und schließlich fasziniert hatte. Seine Alys war nach und nach kühner geworden … bis kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag eine Flut ihre Eltern mitgerissen hatte. Danach war ihre Kühnheit verflogen, ihre Schüchternheit in Teilnahmslosigkeit umgeschlagen und ihre bis dahin regelmäßigen Besuche unregelmäßig geworden. Sie hingen von den Launen ihres Onkels ab, der nur kam, um sich von Saber Geld zu leihen, seit er durch die Heirat mit Sylvia, der Schwester
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