Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Landarzt (German Edition)

Der Landarzt (German Edition)

Titel: Der Landarzt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Schreis, der allgemein wurde, nahm die Witwe die an ihrem Gürtel hängende Schere und schnitt sich die Haare ab, die sie in ihres Gatten Hand legte. Es entstand ein tiefes Schweigen.
    »Dieser Akt bedeutet, daß sie sich nicht wiederverheiraten will,« sagte Benassis. »Viele Verwandte erwarteten diesen Entschluß!«
    »Nimm, mein lieber Herr,« sagte sie mit einer Herzenswärme in der Stimme, die alle Anwesenden bewegte, »hüte in deinem Grabe die Treue, die ich dir geschworen habe. So werden wir immer vereint sein, und ich will unter deinen Kindern aus Liebe zu jener Nachkommenschaft bleiben, die deine Seele verjüngte. Könntest du mich hören, mein Mann, mein einziger Schatz, und vernehmen, daß du mich noch leben läßt, du, der du tot bist, um deinem geheiligten Willen zu gehorchen, und um dein Gedächtnis zu ehren!«
    Benassis drückte Genestas die Hand, um ihn einzuladen, ihm zu folgen, und sie gingen hinaus. Der erste Saal war angefüllt mit Leuten, die aus einer anderen, ebenfalls in den Bergen gelegenen Gemeinde gekommen waren. Alle blieben schweigsam und gesammelt, wie wenn der Schmerz und die Trauer, die über diesem Hause schwebten, sie bereits ergriffen hätten. Als Benassis und der Major über die Schwelle gingen, hörten sie folgende Worte, die einer der neu hinzugekommenen Gäste zu dem Sohne des Entschlafenen sagte:
    »Wann ist er denn gestorben?«
    »Ach,« rief der Aelteste, der ein Mann von fünfundzwanzig Jahren war, »ich habe ihn nicht sterben sehen! Er hatte mich gerufen und ich war nicht da!«
    Schluchzen unterbrach ihn, aber er fuhr fort:
    »Am Vorabend hat er zu mir gesagt: ›Junge, du sollst in den Flecken gehen und unsere Steuern bezahlen; die Begräbnisfeierlichkeiten für mich könnten euch hindern, daran zu denken, und wir würden zu spät kommen, was noch nie geschehen ist.‹ Es schien ihm besser zu gehen, und ich, ich bin gegangen. Während meiner Abwesenheit ist er gestorben, ohne daß ich seiner letzten Umarmungen teilhaftig geworden bin! In seiner letzten Stunde hat er mich nicht bei sich gesehen, wie ich es sonst immer war!«
    »Der Herr ist tot!« schrie man.
    »Ach, er ist tot, und ich habe weder seine letzten Blicke noch seinen letzten Seufzer empfangen. Warum nur an die Steuern denken? Wär' es nicht besser gewesen, unser ganzes Geld zu verlieren, als das Haus zu verlassen? Könnte unsere Habe sein letztes Lebewohl bezahlen? Nein ... Mein Gott! Wenn dein Vater krank ist, verlaß ihn nicht, Jean, du würdest dir sonst dein ganzes Leben über Vorwürfe machen.«
    »Lieber Freund,« sagte Genestas zu ihm, »ich habe Tausende von Männern auf den Schlachtfeldern sterben sehen, und der Tod wartete nicht, bis ihre Kinder kamen und ihnen Lebewohl sagten; also tröstet Euch, Ihr seid nicht der einzige.«
    »Ein Vater, mein lieber Herr,« erwiderte er in Tränen ausbrechend, »ein Vater, der ein so guter Mann war.«
    »Diese Leichenrede,« sagte Benassis, sich mit Genestas nach den Nebengebäuden der Meierei wendend, »dauert bis zu dem Augenblick, da die Leiche in den Sarg gelegt wird, und die ganze Zeit über wird die Rede dieser klagenden Frau sich an Wucht und an Bildern steigern. Doch, um vor einer so großen Versammlung so zu reden, muß eine Frau durch ein makelloses Leben das Recht dazu erworben haben. Wenn die Witwe sich den geringsten Fehl vorzuwerfen hätte, würde sie nicht ein einziges Wort zu sagen wagen; andernfalls hieße das sich selber dazu verurteilen, Angeklagte und Richterin zugleich zu sein. Ist solch eine Sitte, die dazu dient, den Toten und den Lebenden zu richten, nicht erhaben? Die Trauerkleidung wird erst acht Tage später in einer öffentlichen Zusammenkunft angelegt. Während dieser Woche wird die Familie bei den Kindern und der Witwe bleiben, um ihnen ihre Angelegenheiten ordnen zu helfen und um sie zu trösten. Diese Versammlung übt einen großen Einfluß auf die Gemüter aus, unterdrückt die bösen Leidenschaften durch jenen menschlichen Respekt, der die Menschen überkommt, wenn sie einander gegenüberstehen. Am Tage der Traueranlegung endlich findet ein feierliches Mahl statt, bei dem alle Verwandten sich Lebewohl sagen. All das geht würdig vor sich, und wer den Pflichten, die der Tod eines Familienoberhauptes auferlegt, nicht nachkäme, würde niemanden bei seiner Totenklage haben.« In diesem Augenblick machte der Arzt, da sie sich beim Kuhstall befanden, die Türe auf und ließ den Major eintreten, um ihn ihm zu zeigen.
    »Sehen Sie,

Weitere Kostenlose Bücher