Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
war ihr auf Anhieb unsympathisch, was sie dem Professor bei der nächsten Dominopartie unverblümt mitteilte.
»Seien Sie nicht unfair, Gabbie«, mahnte er. »Steve ist ein netter, hübscher Junge – was er vermutlich weiß. Na und? Das ist kein Verbrechen.«
»Trotzdem mag ich ihn nicht«, erwiderte sie entschieden.
»Nur weil Sie Angst haben, Sie könnten wieder verletzt werden. Nicht alle Männer laufen davon oder sterben, und nicht alle tun Ihnen weh.«
Ärgerlich zuckte sie die Achseln und weigerte sich, dieses Gespräch fortzusetzen. Stattdessen gab sie vor, sie würde sich auf die Dominosteine konzentrieren. Aber der kluge Professor durchschaute sie, und er spürte ihr Unbehagen. Steve Porters Anwesenheit erschien ihr sogar bedrohlich. Das war allerdings nicht erstaunlich, nachdem sie ihre Pubertät in einem Kloster verbracht hatte.
»Machen Sie sich Steves wegen keine Sorgen«, versuchte der Professor sie zu beruhigen. »Vermutlich interessiert er sich gar nicht für Sie.« Nun sah er sie erleichtert aufatmen, hoffte allerdings, er würde sich irren. Steve Porter gefiel ihm. Sicher würde es Gabbie gut tun, mit einem jungen Mann auszugehen. Offenbar genügte ihr die Gesellschaft des 80-Jährigen vollkommen – was ihm zwar schmeichelte, er aber keineswegs als normal empfand. Doch er wollte sich nicht einmischen, sondern einfach nur abwarten. Vielleicht würden die jungen Leute irgendwann zueinander finden.
In den nächsten Wochen tat Gabriella ihr Bestes, um Steve Porter aus dem Weg zu gehen. Sie behandelte ihn sogar äußerst unhöflich, was gar nicht zu ihr passte. Das schien er zu ignorieren oder nicht zu bemerken. Stets gut gelaunt, begegnete er den alten Mitbewohnern überaus freundlich. Er kaufte sogar einen schönen Weihnachtsbaum und stellte ihn im Wohnzimmer auf. Sogar um die Dekorationen kümmerte er sich, was Mrs Boslicki in früheren Jahren vermieden hatte, um ihre jüdischen Hausgäste nicht zu kränken. Aber der christliche Schmuck störte niemanden. Alle mochten den netten jungen Mann. Vor seiner Übersiedlung nach New York hatte er in Des Moines gelebt. Jetzt suchte er einen Job in der Computerbranche. Jeden Tag stellte er sich bei diversen Firmen vor, immer adrett gekleidet, in Sportjacketts oder Anzügen.
Von Gabbie abgesehen, genoss er die Sympathie aller Mieter, die inständig hofften, die beiden würden sich ineinander verlieben. Damit wäre Steve möglicherweise einverstanden gewesen, obwohl Gabriella nicht die geringsten Absichten in dieser Richtung erkennen ließ. Als sie eines Tages ihr Zimmer verließ, wuchs ihr Groll gegen den jungen Mann. Er hatte für alle Mieter kleine Weihnachtszweige gekauft und auch an ihre Tür einen gehängt, ohne um Erlaubnis zu bitten. Am liebsten hätte sie den Zweig sofort entfernt, weil sie ihm nicht verpflichtet sein wollte. Doch das wäre zu unhöflich gewesen.
Immer noch wütend, betrat sie das Baum's. »Heute sehen Sie nicht besonders glücklich aus«, wurde sie von ihrem Chef aufgezogen. So schlecht gelaunt sah er sie nur selten. Weil er aber ein ansonsten taktvoller Mann war, fragte er nicht, was ihren Unmut erregt hatte.
Eine Woche vor Weihnachten litten etliche Leute unter massivem Stress. Aber die meisten waren in bester Stimmung. In manchen Menschen brachte das Fest die guten Seiten zum Vorschein, in anderen die schlechten. Mr Baum liebte den Advent. Seit Wochen backte seine Frau Lebkuchen und verkaufte sie den Gästen. Das tat sie jedes Jahr. Allein schon der Anblick des verlockenden Gebäcks im Schaufenster lockte zahlreiche Kunden ins Lokal.
Auch an diesem Tag drängten sich mehrere Leute an der Theke. Aufgeregte Kinder zeigten ihren Eltern die Lebkuchenhäuschen, die sie unbedingt haben wollten. In diesen kleinen Kunstwerken steckten Zuckerstangen, sogar winzige Rentiere aus Schokolade. Wehmütig dachte Gabriella, wie gern sie so etwas in ihrer Kindheit besessen hätte. Zu Weihnachten war ihre Mutter immer besonders bösartig gewesen und hatte ihre Tochter verprügelt, statt sie zu beschenken.
Das versuchte sie zu vergessen, während sie die Gäste bediente. Lächelnd beobachtete sie ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter das Restaurant betrat und entzückt auf ein Lebkuchenhaus zeigte. »Das da! Das da!« Nur mühsam konnte die junge Frau ihre lebhafte Tochter bändigen und versprach ihr, das Häuschen zu kaufen.
Da sie Schlange stehen mussten, dauerte es eine Weile, bis sie an die Reihe kamen. Ungeduldig hüpfte die
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