Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
weiteren Ereignisse verfolgt. Nun half er Gabriella wortlos in den Mantel und führte sie aus dem Lokal. Einen Arm um ihre Schultern gelegt, spürte er, wie heftig sie zitterte. Aber sie hielt ihren Kopf würdevoll erhoben. Erst draußen ließ sie ihren Tränen freien Lauf. »Haben Sie gesehen, was passiert ist?«, würgte sie hervor. Trotz des warmen Mantels erschauerte sie.
»Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Gabriella«, meinte er bewundernd, »und ich bin stolz, Sie zu kennen. Ihr Verhalten war großartig. Aber die meisten Leute verstehen's nicht.«
»Weil sie Angst haben«, ergänzte sie traurig. Langsam wanderten sie den Gehsteig entlang. Er umfasste immer noch ihre Schultern, wollte sie schützen, vor der Vergangenheit ebenso wie vor der Zukunft. »Es ist eben viel leichter, so zu tun, als würde man nichts sehen. Wie mein Vater – er ließ meine Mutter einfach gewähren.« Zum ersten Mal sprach sie mit dem Professor über ihre Kindheit.
»War's für Sie genauso schlimm wie für Allison?« Er hatte keine Kinder, und er begriff nicht, wie man ein hilfloses kleines Geschöpf so grausam behandeln konnte.
»Noch schlimmer. Meine Mutter schlug mich bewusstlos, und mein Vater unternahm nichts dagegen. Nur dass sie mich verließ, hat mich letzten Endes gerettet. Auf einem Ohr bin ich fast taub. Im Lauf der Jahre brach sie mir fast alle Rippen. Mein Körper ist mit Narben übersät. Ein paar Mal erlitt ich eine Gehirnerschütterung. Blutend lag ich am Boden – und da verprügelte sie mich noch grausamer, weil ich den Teppich beschmutzte.«
»O Gott ...« Tränen brannten in seinen Augen. Den Albtraum vermochte er sich nicht vorzustellen. Aber er glaubte ihr. Das erklärte ihre Scheu gegenüber den Mitmenschen, ihr Heimweh nach dem Kloster, ihrer Zufluchtsstätte. Außerdem verstand er jetzt, warum manche Menschen sie für stark hielten. Nachdem sie so viel erlitten hatte, verbarg sich in ihrer Seele eine Kraft, die es sogar mit dem Teufel aufnehmen würde. Trotz aller Wunden hatte sie das Grauen überlebt. Gabriellas Lebensmut hatte die gewalttätige Mutter nicht zerstören können. Darauf wies er sie hin, während sie zur Pension gingen.
»Deshalb hasste sie mich. Sie wollte mich töten.«
»So schrecklich es auch ist, so etwas von der eigenen Mutter zu behaupten – ich glaube Ihnen.« Bedrückt runzelte er die Stirn. »Wo ist sie jetzt?«
»Wahrscheinlich in San Francisco. Nachdem sie mich ins Kloster gebracht hatte, schickte sie der Oberin monatlich einen Scheck, bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Davon abgesehen, hörte ich nichts mehr von ihr.«
»Das ist auch gut so. Sie sollten nicht versuchen, Verbindung mit ihr aufzunehmen, Gabbie. Diese Frau hat Ihnen schon genug angetan.« Das Verhalten des Vaters, der sein Kind nicht beschützt hatte, verstand er noch weniger. Was für Menschen mussten das gewesen sein?
Arm in Arm betraten sie die Pension. Mrs Rosenstein hatte sie durchs Fenster des Wohnzimmers beobachtet. Besorgt eilte sie in die Halle. Normalerweise kam Gabriella erst nach Mitternacht heim, und deshalb erriet die alte Frau, dass irgendetwas geschehen war. Zunächst dachte sie, Professor Thomas hätte sich verletzt, und das Mädchen würde ihn nach Hause bringen. »Alles in Ordnung?«, fragte sie angstvoll.
Beide nickten. »Vorhin wurde ich gefeuert«, erklärte Gabriella. Jetzt zitterte sie nicht mehr. Sie wirkte erstaunlich ruhig.
»Wieso denn?«, erkundigte sich Mrs Rosenstein, während der Professor eine Flasche Brandy aus seinem Zimmer holte. »Ich dachte, die Baums wären mit Ihnen zufrieden.«
»Das waren sie auch.« Dankbar nahm Gabriella das Glas entgegen, das der Professor ihr eingeschenkt hatte, und nippte daran. Der Brandy brannte in ihrer Kehle, aber er schmeckte ihr. Plötzlich fühlte sie sich so stark, wie man es immer wieder von ihr behauptet hatte. »Alles ging gut – bis ich heute Nachmittag einer Kundschaft Ohrfeigen androhte.«
»Ist der Kerl frech geworden?«, rief Mrs Rosenstein entrüstet. Nach ihrer Ansicht musste es ein Mann gewesen sein, der Gabbies Unmut erregt hatte.
»Das erkläre ich dir später, meine Liebe«, versprach der Professor und leerte das Glas, das er für seine alte Freundin gefüllt und das sie abgelehnt hatte.
In diesem Augenblick erschien Mrs Boslicki in der Halle. »Was ist denn hier los? Eine Party? Habt ihr vergessen, mich einzuladen?«
»Wir feiern!«, verkündete Gabriella lachend. Sie fühlte sich ein bisschen angeheitert. Doch
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