Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Lebkuchenhäuschen. »Mommy, du hast doch gesagt, du kaufst mir eins!«
»Jetzt nicht, Allison. Da du dich so unmöglich benommen hast, gehen wir sofort nach Hause. Ich werde Daddy erzählen, wie schlimm du warst. Dann wird er dich übers Knie legen! Vor all den Leuten hast du Mommy blamiert.« Auf ihre Tochter konzentriert, bemerkte die Frau die entsetzten Mienen des unfreiwilligen Publikums nicht. Die meisten Leute hatten solche Szenen noch nie beobachtet. Für Gabriella war das alles nichts Neues.
»Du tust meinem Arm schon wieder weh!«, jammerte das Kind und schaute über die Schulter zu Gabriella hinüber. Am liebsten wäre Allison bei dieser netten jungen Dame geblieben.
Wie seltsam – die Situation erinnerte Gabriella an Marianne Marks, die ihr erlaubt hatte, jene schöne Tiara anzuprobieren. Wie inständig hatte sie sich damals gewünscht, sie wäre die Tochter der freundlichen Frau ... Manchmal, wenn Kinder in Not gerieten, kreuzten mitfühlende Menschen ihren Weg, ohne zu ahnen, welch eine übergroße Sehnsucht sie in den verängstigten kleinen Seelen weckten.
Schweren Herzens schaute Gabriella der kleinen Allison nach, die ihrer Mutter notgedrungen auf die Straße folgte. Das Kind würde kein Lebkuchenhaus bekommen und sich stattdessen anhören müssen, wie schlimm es gewesen sei. Wenn es sich anständig benehmen würde, müsste die Mutter es niemals schlagen. Bei diesem Gedanken wurde Gabriella fast übel.
Die Augen voller Tränen, wandte sie sich zu den Baums um und hielt bestürzt den Atem an. Offensichtlich zürnten ihr die beiden, weil sie eine Kundin beleidigt und den Verkauf eines Lebkuchenhäuschens verhindert hatte. Mrs Baum schien sogar an ihrem Verstand zu zweifeln. Sekundenlang war Gabriella ja wahrhaftig verrückt gewesen – verrückt vor Wut. Beinahe hätte sie die Frau im Nerzmantel geschlagen, um ihr klar zu machen, wie sich die Ohrfeigen anfühlten, die sie ihrer Tochter vermutlich jeden Tag verabreichte. Daran erinnerte sich Gabriella nur allzu lebhaft.
»Nehmen Sie die Schürze ab«, befahl Mr Baum leise, von Kunden und anderen Angestellten umringt. »Sie sind gefeuert!« Gebieterisch streckte er eine Hand nach der weißen Schürze aus, und seine Frau nickte beifällig.
»Tut mir Leid, Mr Baum«, erwiderte Gabriella in sanftem Ton und versuchte nicht, ihn umzustimmen. Wenn sie auch ihren Job verlor – den Preis bezahlte sie sehr gern für die Hilfe, die sie einem armen Kind geleistet hatte. »Ich konnte nicht anders handeln.«
»Aber Sie hatten kein Recht, sich einzumischen. Diese Frau darf mit ihrer Tochter machen, was sie will.«
Mit dieser Meinung stand er nicht allein da. So viele Leute glaubten, alle Eltern dürften ihre Kinder nach Belieben verprügeln. Und wenn niemand dazwischentrat? Wer würde diese bedauernswerten, gepeinigten kleinen Geschöpfe verteidigen? Nur die Starken, die Tapferen. Nicht die Feiglinge wie die Baums oder Gabriellas Vater, der sie niemals beschützt hatte.
»Was ist, wenn diese Frau ihre Tochter umbringt?«, gab Gabriella zu bedenken. »Was dann? Wenn sie das Kind hier in diesem Lokal getötet hätte? Womöglich erschlägt sie die kleine Allison zu Hause, in wenigen Minuten. Was werden Sie sagen, wenn Sie das morgen in der Zeitung lesen? Dass es Ihnen Leid tut, dass Sie wünschten, Sie hätten dem Kind geholfen? Dass Sie keine Ahnung hatten? Aber Sie wussten es. Wir alle wussten Bescheid. Aber die meisten Menschen gehen einfach weiter, wenn sie solche Dinge beobachten. Damit wollen sie nichts zu tun haben. Weil es zu peinlich ist ... Großer Gott, haben Sie denn nicht
bemerkt,
wie brutal der Ellbogen dieses armen kleinen Mädchens ausgerenkt wurde?«
»Verlassen Sie mein Restaurant, Gabriella, und kommen Sie nie mehr zurück. Sie sind gefährlich – und offensichtlich nicht ganz bei Trost.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich wieder zu seinen Kunden, die genauso wie er vergessen wollten, was sie soeben miterlebt hatten.
»O ja, ich hoffe, ich bin für solche Leute gefährlich«, entgegnete sie und legte ihre Schürze auf die Theke. »Aber die eigentliche Gefahr geht von
Ihnen
aus – von den Menschen, die wegschauen.« Der Reihe nach musterte sie die Gäste und die Angestellten, die zu verlegen waren, um ihren Blick zu erwidern.
Als sie ihren Mantel vom Haken neben der Tür nahm, stellte sie fest, dass sie von Professor Thomas beobachtet wurde. Während das Kind zu schreien begonnen hatte, war er hereingekommen. Verblüfft hatte er die
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