Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Speisekarte aus. Immer wieder klagte er, sie sei zu dünn. Obwohl sie protestierte, bestellte er ihr jedes Mal etwas mehr, als sie essen wollte. Ab und zu schimpfte er mit ihr, weil sie sich nicht bemühte, junge Leute kennen zu lernen. Andererseits war er froh, weil er sie für sich allein hatte.
»Eigentlich sollten Sie mit Kindern in Ihrem Alter spielen«, bemerkte er eines Tages.
»Die sind mir zu wild. Außerdem kenne ich keine. Mit Ihnen bin ich viel lieber zusammen.«
»Dann beweisen Sie's, tun Sie mir einen Gefallen und schreiben Sie wieder was.« Unentwegt bedrängte und ermutigte er Gabriella. Kurz vor dem Erntedankfest, zwei Monate nach der ersten Begegnung, hatte sie drei Notizbücher mit teilweise hervorragenden Geschichten gefüllt. Der Professor lobte sie und konstatierte, dank ihres Fleißes habe sich ihr Stil verbessert. Dauernd forderte er sie auf, ihre Werke an Zeitschriftenredaktionen oder Verlage zu schicken. Aber sie weigerte sich, von ihren Fähigkeiten längst nicht so überzeugt wie er.
»Dazu bin ich noch nicht bereit.«
»Sie reden wie Picasso. Was heißt –
bereit?
War Steinbeck bereit? Hemingway? Shakespeare? Dickens? Jane Austen? Die haben's einfach getan, nicht wahr? Über Perfektion reden wir nicht – nur von dem Wunsch, sich anderen Menschen mitzuteilen ... Da wir gerade von Kommunikation sprechen – fahren Sie zum Erntedankfest nach Hause, meine Liebe?« Sie saßen in einem italienischen Restaurant im East Village. Verwirrt wich sie dem Blick des Professors aus.
»Eh – nein ...« Dass sie kein Zuhause hatte, verschwieg sie. Inzwischen wusste er, wie lange sie im St. Matthew's gewesen war. Aber es widerstrebte ihr, ihm zu gestehen, sie habe keinen Kontakt mit ihrer Familie und sei im Kloster nicht mehr willkommen. Jetzt war er ihre einzige Familie.
»Also werden Sie mit uns feiern – das freut mich.« Jedes Jahr briet Mrs Boslicki einen großen Truthahn für ihre Mieter, und er hatte gehofft, Gabriella würde am Festmahl teilnehmen. Nur wenige Pensionsgäste hatten Verwandte, bei denen sie das Erntedankfest verbrachten, und der geschiedene Vertreter war bereits in eine andere Stadt gezogen.
»Mich auch ...« Hastig wechselte sie das Thema und erzählte von der Geschichte, an der sie gerade arbeitete.
Irgendwas in der Handlung stimmte nicht, und sie überlegte, ob sie das Problem mit einem Gewaltakt oder einer Liebesromanze lösen sollte.
»Da nennen Sie zwei Möglichkeiten, die sich krass unterscheiden, meine Liebe – obwohl Liebe und Gewalt manchmal eng verbunden sind.« Mit diesen Worten erinnerte er sie an Joe. Über ihr Gesicht glitt ein Schatten, und der Professor gab vor, nichts zu bemerken. Würde sie ihm jemals anvertrauen, welche Tragödien sie erlebt hatte? Das wünschte er sich, war aber klug genug, keine direkten Fragen zu stellen. »Die Liebe kann sehr wehtun und zerstörerisch wirken. Etwas Schlimmeres – oder Besseres gibt es nicht. Ich fand die Höhen und Tiefen gleichermaßen unerträglich. Andererseits – wenn man gar nichts davon erlebt, ist es noch schrecklicher.« Welch romantische Worte für einen Mann seines Alters ... Es fiel ihr nicht schwer, sich ihren Freund in seiner Jugend vorzustellen, unsterblich in seine Frau verliebt. »Offenbar haben Sie unter der Liebe gelitten, Gabriella. Das lese ich in Ihren Augen, wann immer wir dieses Thema anschneiden.« Behutsam ergriff er ihre Hand. »Wenn Sie sich dazu durchringen, das alles eines Tages niederzuschreiben, werden Sie's nicht mehr so schmerzlich finden. Es wäre eine Art Katharsis. Aber es könnte Ihre Seele zu stark belasten. Tun Sie's erst, wenn Sie wirklich dazu bereit sind.«
»Einmal – habe ich jemanden sehr geliebt ...«, begann sie zögernd.
»In Ihrem Alter ist das ganz normal. Wahrscheinlich werden Sie sich noch öfter verlieben.« Er selbst hatte immer nur Charlotte geliebt. Aber sie waren viel glücklicher gewesen als die meisten Menschen. »Ich vermute, es ist vorbei.«
»Ja ...« Bevor sie weitersprach, holte sie tief Atem. »Im September ist er gestorben.« Nähere Einzelheiten wollte sie nicht verraten, und der Professor stellte keine Fragen. »Damals dachte ich, es würde mich umbringen.« Von jenem Leid war sie noch nicht genesen, wenn sie sich auch etwas besser fühlte.
Also stimmte es, was er schon die ganze Zeit geahnt hatte – ihr junges Leben war von einer Tragöde überschattet worden – vielleicht sogar von mehreren. »Tut mir Leid. Aber die Liebe nimmt
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