Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
das empfand sie momentan als äußerst angenehm. Es war ein grauenhafter Tag gewesen, voll böser Erinnerungen, aber sie war gestärkt daraus hervorgegangen.
»Was feiern Sie denn?«, fragte die Pensionswirtin neugierig.
»Heute habe ich meinen Job verloren«, kicherte Gabriella.
»Ist sie betrunken?« Vorwurfsvoll wandte sich Mrs Boslicki zu Professor Thomas.
»Glauben Sie mir, sie hat's verdient.« Jetzt entsann er sich, dass es tatsächlich einen Grund zum Feiern gab. Deshalb war er ins Baum's gegangen. Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und drückte ihn in Gabriellas Hand. Nur zwei Wochen hatte es gedauert. Er war überzeugt gewesen, er würde sich viel länger gedulden müssen. »Lesen Sie das, falls Sie nicht zu beschwipst sind.« Verdutzt nahm sie einen Brief aus dem bereits geöffneten Umschlag und faltete ihn auseinander, mit ungeschickten Fingern. Noch nie hatte sie Brandy getrunken. Aber er hatte sie beruhigt und erwärmt. Während sie das Schreiben überflog, wurden ihre Augen immer größer. Innerhalb weniger Sekunden war sie stocknüchtern. »Oh, mein Gott! Unglaublich! Wie haben Sie das geschafft?« Entgeistert starrte sie den Professor an. Dann begann sie wie ein Kind hin und her zu hüpfen, den Brief in der Hand.
»Was ist denn passiert?«, fragte Mrs Boslicki. Waren sie alle verrückt geworden? Wie lange tranken sie schon Brandy? »Haben Sie in einem Preisausschreiben gewonnen?«
»Viel besser!«, jubelte Gabriella, umarmte sie, dann Mrs Rosenstein und schließlich den Professor.
Ohne sie zu informieren, hatte er ihr neuestes Werk an den
New Yorker
geschickt und an diesem Tag die Mitteilung erhalten, dass es in der Märzausgabe erscheinen sollte. In dem Brief stand, man würde ihr einen Scheck über tausend Dollar schicken, und der Redakteur erkundigte sich, ob sie einen Literaturagenten habe. Dank dem Professor würde sie zum ersten Mal eine ihrer Geschichten veröffentlichen. Wenn er auch eigenmächtig gehandelt hatte – er wusste, dass Gabriella es niemals gewagt hätte, sich an einen Verlag oder eine Zeitschriftenredaktion zu wenden.
»O Professor Thomas, wie kann ich Ihnen jemals danken?«, sprudelte sie atemlos hervor. Jetzt hielt sie den Beweis für ihr Talent in der Hand, an das Mutter Gregoria, Joe und ihr alter Freund stets geglaubt hatten – nur sie selbst nicht.
»Danken Sie mir, indem Sie noch mehr Geschichten schreiben. Ich werde Ihren Agent spielen. Es sei denn, Sie möchten einen richtigen engagieren.« Den brauchte sie vorerst nicht – aber später würde sich ein Fachmann um ihre Geschäfte kümmern müssen. Sie hatte das Zeug zu einer ganz großen Schriftstellerin. Das wusste er, seit er zum ersten Mal eines ihrer Werke gelesen hatte.
»Machen Sie alles so, wie Sie's wollen, Professor. So ein fantastisches Weihnachtsgeschenk habe ich noch nie bekommen.« Sie sorgte sich nicht mehr wegen des Jobs, den sie verloren hatte. Jetzt würde sie genug Geld mit ihren Geschichten verdienen. Falls wirklich irgendetwas schief ging, konnte sie jederzeit wieder die Stellung einer Kellnerin annehmen.
Nachdem die anderen Mieter schlafen gegangen waren, saßen Gabriella und Professor Thomas noch lange im Wohnzimmer, sprachen über die Ereignisse im Baum's, über die Vergangenheit und die Zukunft, die sie sich wünschte. Der Professor meinte, als Schriftstellerin könne sie's weit bringen. Allerdings müsste sie hart arbeiten. Dazu war sie bereit. Bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog, dankte sie ihm noch einmal überschwänglich.
Später an diesem ereignisreichen Tag stand sie an ihrem Fenster, dachte an ihren Erfolg – und an Joe. Wie stolz er auf sie wäre ... Hätte er nicht Selbstmord begangen, wären sie jetzt verheiratet, würden ein kleines Apartment bewohnen und ein entbehrungsreiches, aber glückliches Leben führen. Sie würden ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest feiern, und sie wäre im fünften Monat schwanger. Doch das Schicksal hatte anders entschieden. Er war zu schwach gewesen, um zu kämpfen, zu verängstigt, um über die Brücke zu gehen, in ein neues Leben mit Gabriella.
Plötzlich wusste sie, was er mit seiner Behauptung gemeint hatte, sie sei stark. Darin lag der Unterschied zwischen ihnen, denn sie zögerte nicht, den Fluss zu überqueren und zu kämpfen. Joe hatte sie zwar geliebt, aber nicht genug, um den Kampf an ihrer Seite aufzunehmen. In letzter Minute war er umgekehrt, und beide hatten sie alles verloren. Nun musste sie allein ganz von vorn
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