Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
weiße Wölkchen in der Luft. Allzu viel sagten sie nicht, denn die Kälte stach wie Stecknadeln in ihren Lungen. Als sie die kleine St.-Andrew's-Kirche erreichten, prickelten Gabriellas Wangen. Anscheinend hatten sich alle Gemeindemitglieder eingefunden und Freunde mitgebracht. Von vertrauten Gefühlen bewegt, folgte Gabriella dem jungen Mann in eine Kirchenbank. Überall brannten Kerzen, Weihrauch erfüllte den Raum, und die Kiefernzweige, die den Altar schmückten, dufteten würzig. Überwältigt von Trauer und nostalgischen Gefühlen, gewann sie den Eindruck, sie wäre nach Hause gekommen. Während der ganzen Messe lag sie auf den Knien, und Steve sah Tränen in ihren Augen glänzen. Nach dem Grund ihres Kummers fragte er nicht. Aber er legte eine Hand auf ihre Schulter, gab ihr zu verstehen, er sei für sie da, und ließ sie sofort wieder los, weil sie nicht glauben sollte, er wollte sich in ihre Privatsphäre einmischen.
In dieser Nacht erschienen ihr die Hymnen, die sie alle kannte, besonders schön. Die ganze Gemeinde sang »Stille Nacht«, und als der Chor »Ave Maria« anstimmte, kämpfte auch Steve mit den Tränen. Beide hingen schmerzlichen Erinnerungen nach. Erst war sein Vater gestorben und wenig später seine Mutter erkrankt. Bedauerlicherweise konnte er aus finanziellen Gründen nicht bei ihr sein.
Nach dem Gottesdienst ging Gabriella zum Altar und zündete vor dem Standbild der Heiligen Jungfrau drei Kerzen an – eine für Mutter Gregoria, eine für Joe, eine für ihr totes Baby. Und dann betete sie für alle drei Seelen.
Auf dem Heimweg wartete Steve eine Weile, bevor er zu sprechen begann, denn er wollte Gabriella nicht in ihren Gedanken stören. Schließlich bemerkte er leise, es sei sehr schwierig, fern von daheim zu leben und geliebte Menschen zu verlieren. Schweigend nickte sie. »Ich nehme an, auch für Sie war dieses Jahr nicht leicht«, fügte er hinzu und dachte an ihre Tränen.
»Nein, gewiss nicht.« Seite an Seite wanderten sie langsam durch die Nacht. »Ich verlor zwei Menschen – und einen dritten, den ich nicht einmal in meiner Fantasie sehen kann. Bevor ich in Mrs Boslickis Pension zog, war ich ganz verzweifelt.« Mit diesen Worten versuchte sie anzudeuten, sie könnte nachempfinden, was er gerade durchmachte.
»Unsere Vermieterin ist so nett zu mir«, erklärte er dankbar. »Jeden Tag nimmt sie stundenlang Telefongespräche für mich entgegen.«
»Das macht ihr sicher nichts aus.« Inzwischen waren sie nur mehr einen Häuserblock von der Pension entfernt, und er fragte – als wäre er eben erst auf diesen Gedanken gekommen –, ob Gabriella eine Tasse Kaffee mit ihm trinken wolle. Um ein Uhr nachts war das Café an der Ecke immer noch geöffnet. »Warum nicht?«, erwiderte sie leichthin. Wenn sie jetzt in ihr Zimmer ginge, würde sie unentwegt an Joe denken und bitterlich weinen. Zu Weihnachten war es einfach unmöglich, sich
nicht
einsam zu fühlen, wenn man allein war. Offenbar brauchten sie beide Gesellschaft – Steve in seinem Kummer, Gabriella in ihren Gedanken an die leidvolle Vergangenheit.
Beim Kaffee erzählte er von seiner Kindheit in Des Moines, von seinem Studium an der Yale- und der Stanford-Universität. In Kalifornien hatte er sich sehr wohl gefühlt, aber geglaubt, in New York könnte er bessere Chancen nutzen. Nun fürchtete er, diese Entscheidung wäre falsch gewesen.
»Gedulden Sie sich noch ein wenig«, tröstete sie ihn. Dann erwähnte er, neulich habe er gehört, sie sei direkt aus einem Kloster in Mrs Boslickis Pension übersiedelt, und sie nickte. »Die letzten zwölf Jahre verbrachte ich in einem Konvent namens St. Matthew's. Ich war Postulantin. Und dann verließ ich das Kloster, aus mehreren komplizierten Gründen.«
»Im Leben gibt es so viele Komplikationen, nicht wahr? Welch ein Jammer ... Ich habe das Gefühl, meine Situation wird sich niemals bessern.«
»Manchmal machen wir's uns selber schwer. Im Augenblick kommt's mir zumindest so vor. Wenn wir die Dinge einfach geschehen lassen, ist's viel leichter.«
»Könnte ich Ihnen bloß glauben ...«, seufzte er, während die Kellnerin die Tassen zum dritten Mal füllte. Inzwischen waren sie vorsichtshalber zu koffeinfreiem Kaffee übergegangen. Steve erzählte, er sei mit einem Mädchen verlobt gewesen, das er an der Yale-Universität kennen gelernt habe. »Letzten Sommer wollten wir heiraten ...« Die Hochzeit war für den letzten 4. Juli geplant worden. Zwei Wochen davor hatte seine Braut
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