Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
entgegengenommen wurde. Gerührt beteuerte der junge Mann, ohne seine netten Mitbewohner wäre dieses Weihnachtsfest das schlimmste seines Lebens gewesen. Dabei schaute er eindringlich in Gabbies Augen.
Später begleitete er sie zu ihrem Zimmer hinauf, und sie blieben noch eine Weile vor der Tür stehen. Trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten hatte er ihr ein schönes, in Leder gebundenes Notizbuch geschenkt und die anderen Mitbewohner mit kleinen Aufmerksamkeiten erfreut. Dem Professor hatte er einen warmen Schal verehrt. »Allmählich habe ich das Gefühl, diese Leute sind meine Familie, Gabbie.«
Das verstand sie sehr gut. Die alten Hausbewohner interessierten sich für Gabriellas neuen Job, diskutierten eifrig über ihre Schriftstellerei und mieden taktvoll das Thema ihrer Vergangenheit. Aber so wohl sie sich in der Pension auch fühlte – an diesem Tag hatte sie die Nonnen von St. Matthew's schmerzlich vermisst. Und sie wünschte, sie besäße ein Foto von Joe, das sie manchmal betrachten könnte. Sie sah ihn nur in ihrer Fantasie, und sie fürchtete, eines Tages würde sie vergessen, wie er aussah – seine blauen Augen, sein gewinnendes Lächeln. Wehmütig erinnerte sie sich an das amüsante Baseballspiel, das er am 4. Juli arrangiert hatte. Nach wie vor spielte er eine große Rolle in ihrem Leben. Das spürte Steve, und er hielt sich taktvoll im Hintergrund.
Aber er war gern mit ihr zusammen. Bevor er zu seinem Zimmer ging, strich er zärtlich über ihre Wange. Deshalb machte sie sich später Sorgen. Sie wollte sich nicht auf eine engere Beziehung einlassen, wenige Monate nach Joes Tod. Sie wusste sowieso nicht, ob sie jemals wieder einen Mann lieben könnte. Steve war ganz anders – ein weltgewandter Informatiker, ohne Joes naive Unschuld und die magische Anziehungskraft, die der junge Priester ausgeübt hatte. Doch sie fand ihn sehr nett. Außerdem
lebte
er und war in ihrer Nähe – während Joe den Kampf aufgegeben und sie verlassen hatte.
Am zweiten Weihnachtstag klopfte Steve an ihre Tür. Er war spazieren gegangen und hatte ihr einen Becher heiße Schokolade mitgebracht. Mit solchen Aufmerksamkeiten beeindruckte er sie immer wieder. »Darf ich etwas lesen, das Sie geschrieben haben?«, fragte er fast schüchtern.
Sie gab ihm einige Geschichten und beobachtete, wie er sie mit wachsender Begeisterung las. Eine Zeit lang saßen sie beisammen und unterhielten sich. Später überredete er sie zu einem Spaziergang, und sie wanderten durch die Straßen, unter grauen Schneewolken.
Am nächsten Morgen lag eine dicke weiße Decke über der ganzen Stadt. Wie übermütige Kinder bewarfen sich Steve und Gabriella mit Schneebällen. Das würde ihn an die Zeiten erinnern, in denen er ein kleiner Junge gewesen sei, erklärte er. Sie sprach nicht von ihrer Kindheit. Diese Erinnerungen wollte sie nicht mit ihm teilen – vorerst nicht. Nach der Schneeballschlacht gingen sie ins Haus, und endlich gestand er ihr seine finanziellen Probleme. Er schickte seiner Mom regelmäßig Geld. Wenn er nicht bald einen Job fand, würde er nach Des Moines zurückkehren oder sich ein billigeres Zimmer suchen müssen, irgendwo in den Slums an der West Side.
Mitfühlend hörte Gabriella zu. Sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen, und sie fragte sich, wie sie das Thema anschneiden sollte. Da sie den Scheck vom
New Yorker
erhalten und in den letzten Monaten einiges gespart hatte, könnte sie ihm etwas leihen, bis sich seine Situation bessern würde. Eine Zeit lang redete sie um den heißen Brei herum, aber schließlich bot sie ihm ohne weitere Umschweife ihre Hilfe an. Die Augen voller Tränen, dankte er ihr überschwänglich. Sie erbot sich, seine Januarmiete zu bezahlen. Wenn er dann eine Stellung hatte, sollte er seine Schulden begleichen.
Am nächsten Tag übergab sie der Pensionswirtin das Geld. Erstaunt hob Mrs Boslicki die Brauen. »Also haben Sie beschlossen, Mr Porter finanziell zu unterstützen? Was für ein Glück der Junge hat ...« Sie wollte verhindern, dass Gabbie übervorteilt wurde. Gewiss, Steve Porter war ein netter Bursche – aber was wussten sie schon über ihn? Nur dass er ständig angerufen wurde. Aber Gabbie versicherte, es sei nur eine Leihgabe, und es sollte bei diesem einen Mal bleiben. »Hoffentlich!«, seufzte die alte Frau und legte das Geld in ihre Kassette. Sie wusste es zu schätzen, wenn die Miete rechtzeitig bezahlt wurde – aber nur, solange die Dollars von den richtigen Leuten
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