Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
einen tödlichen Autounfall erlitten, auf der Fahrt zu ihm. Seither sei sein Leben total verändert, fügte er hinzu. Unter Tränen berichtete er, wegen ihrer Schwangerschaft sei die Hochzeit um ein paar Monate vorverlegt worden. Er habe sich so auf das Baby gefreut.
Beklommen hörte Gabbie zu und dachte an ihr eigenes ähnliches Schicksal. Sie hatte ihren Liebsten verloren – und ihr Baby. Das wollte sie erwähnen. Doch sie wagte es nicht. Vermutlich würde ihn die Geschichte von einer Liebesbeziehung zwischen einem Priester und einer Postulantin schockieren. Nicht einmal den Professor hatte sie eingeweiht. Aber sie gestand: »Genauso fühlte ich mich, als Joe starb. Auch wir wollten heiraten. Leider hatten wir einige Probleme ...« Nach einer kurzen Pause beschloss sie, wenigstens eine ihrer seelischen Bürden mit Steve zu teilen. »Im vergangenen September nahm er sich das Leben.«
»Oh, mein Gott – Gabbie – wie grauenvoll!« Unwillkürlich berührte er ihre Hand, die sie ihm nicht entzog.
Erst drei Monate waren seit jener Unglücksnacht vergangen. »Wenn ich jetzt zurückblicke, weiß ich nicht, wie ich's überstanden habe. Alle dachten, es wäre meine Schuld. Und das glaube ich selber – bis zum heutigen Tag.«
»Unsinn, Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Meistens gibt es mehrere Gründe, die einen Menschen zum Selbstmord treiben. Wenn man unter starkem Druck steht, kann man oft nicht klar denken.«
»Ja, in Joes Fall trifft das sicher zu. Als er vierzehn war, brachte sich seine Mutter um. Dafür fühlte er sich verantwortlich – genauso wie für den Tod seines zwei Jahre älteren Bruders, der in einem Fluss ertrank. Damals war Joe erst sieben. Natürlich traf ihn an beiden Tragödien nicht die geringste Schuld. Aber mich selbst kann ich nicht freisprechen – weil er meinetwegen aus dem Leben ging. Er fürchtete, er könnte meine Erwartungen nicht erfüllen.«
»Mit dieser seelischen Belastung hätte er Sie nicht allein lassen dürfen.« Steve fand, Joe hätte feige und egoistisch gehandelt. Doch das sprach er nicht aus, weil er ihren Kummer nicht vertiefen wollte.
Auf dem Heimweg legte er einen Arm um ihre Schultern. Gabriella ließ es geschehen. In dieser Weihnachtsnacht hatten sie einander sehr viel anvertraut, und sie staunte immer noch über die Parallelen in seinem und ihrem Schicksal.
Da sie sich nicht bedrängt fühlen sollte, verabschiedete er sich vor der Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte.
Während dieser Nacht dachte sie sehr lange über ihn nach. Dann setzte sie sich aufs Bett und las mal wieder Joes Brief, und wieder einmal durch einen Tränenschleier. Hätte sie damals rechtzeitig mit ihm gesprochen, wäre vielleicht alles anders gekommen, und sie würde sich nicht bemüßigt fühlen, ihr Herz einem fremden Menschen auszuschütten. Wie unfair Joe gewesen war ... Aber sie zürnte ihm nicht mehr. Darüber war sie hinweggekommen. Erschöpft ging sie schlafen und träumte von Joe, der sie im Klostergarten erwartete.
19
Am Weihnachtstag briet Mrs Boslicki wieder einen großen Truthahn, und diesmal nahm auch Steve an der Mahlzeit teil. Mit seinen lustigen Geschichten brachte er die Tischgesellschaft ständig zum Lachen. Nach dem Essen wurden Weihnachtsgeschenke ausgetauscht. Gabriella hatte in letzter Minute ein Aftershave für Steve gekauft, und er versicherte ihr, es würde köstlich duften. Für dieses Geschenk sei er ihr umso dankbarer, weil er sich im Augenblick einen solchen Luxus nicht leisten könne.
Angesichts der antiquarischen Bücher wusste sich Professor Thomas vor Freude kaum zu fassen und fand es unglaublich, dass sie diese Rarität aufgestöbert hatte. Lächelnd erzählte sie, nur weil sie etwas Besonderes für ihn gesucht habe, sei ihr der Job in der Buchhandlung angeboten worden. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte eine seltsame Vorsehung die letzten Ereignisse in ihrem Leben bestimmt – auch die Begegnung mit Steve. An diesem Abend sprachen sie sehr lange miteinander, was der Professor voller Genugtuung registrierte. Natürlich unterhielt sie sich auch mit ihm, während er sie wie üblich beim Domino besiegte. Nach der ersten Partie forderte er Steve auf, mitzuspielen.
Gabriella sorgte sich um ihren alten Freund, der nach wie vor noch an Grippe litt und nicht gut aussah. Schon seit Wochen hustete er. Als Mrs Boslicki ihm heißen Tee mit Zitrone und Honig servierte, goss er etwas Brandy hinein. Dann bot er Steve ein Glas an, das dankbar
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