Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Ebenso wie Ian Jones, ihr neuer Boss. Sicher würde es ihr Spaß machen, für ihn zu arbeiten. Da er ihr erklärt hatte, er würde mit jemandem zusammenleben, war sein Interesse an ihr rein beruflich und kein bisschen romantisch, was sie sehr angenehm fand. Sie strebte keine engere Beziehung an, denn sie vermisste Joe schmerzlich.
Würde sie sich jemals wieder verlieben? Wohl kaum. Einem solchen Mann würde sie nie mehr begegnen. Aber sie freute sich trotzdem über Steves Einladung zur Christmette. Vielleicht würden sie Freundschaft schließen. In diesen Tagen war sie so froh gestimmt und bereit, ihren Mitmenschen offenherziger zu begegnen. Das gestand sie dem Professor an diesem Abend, nachdem sie aus der Imbissstube gegenüber ein Dinner geholt hatte, das sie gemeinsam in seinem Zimmer verspeisten.
»Vermutlich haben Sie Recht, was Steve betrifft. Jetzt finde ich ihn furchtbar nett, und es tut mir Leid, dass er noch immer keinen Job gefunden hat.«
»Ja, das ist traurig, und ich verstehe es nicht. Er ist ein hochintelligenter junger Mann. Ein paar Mal habe ich mich mit ihm unterhalten. Immerhin kann er einen Summa-cum-laude-Abschluss an der Yale vorweisen. Und einen MBA* von Stanford. Ziemlich imposant.« Auch aus diesem Grund hätte er Gabbie gern mit Steve verkuppelt. Da der Junge über eine so gute Ausbildung verfügte, würde er zweifellos seinen Weg machen, wenn er erst einmal einen Posten bekam. Er musste sich halt einfach in Geduld fassen.
Während sie dem Professor zuhörte, wurde ihr bewusst, wie glücklich sie sich schätzen musste. Nur wenige Tage nach ihrer Kündigung hatte sie bereits eine fabelhafte neue Stelle. Jetzt war sie doppelt froh, dass sie Allison beigestanden hatte. Vielleicht würde die Erinnerung an jene Szene dem Mädchen im späteren Leben vor Augen führen, dass es auf dieser Welt auch gute Menschen gab, die sich für wehrlose Kinder einsetzten.
Im Lauf des Abends verschlimmerte sich der Husten des Professors, und so ließ sie ihn allein, damit er sich ausruhen konnte.
Zu ihrer Verblüffung fand sie in ihrem Zimmer einen Brief von Steve.
Liebe Gabbie, herzlichen Dank für Ihre ermutigenden Worte. Die habe ich im Augenblick dringend nötig, wegen meiner familiären Probleme. Seit einem Jahr ist meine Mom krank, und im letzten Winter haben wir Dad verloren. Vorerst kann ich nicht nach Des Moines fahren. Deshalb würde es mir sehr viel bedeuten, wenn ich zusammen mit Ihnen die Christmette besuchen dürfte. Wenn nicht, sehen wir uns vielleicht ein andermal. Wie wär's mit einem Dinner? (Ich bin ein grandioser Koch – falls Mrs Boslicki mir erlauben würde, ihre Küche zu benutzen. Steaks, Spagetti, Pizza! Was immer Sie sich wünschen!) Passen Sie auf sich auf. Hoffentlich geht die Weihnachtszeit für Sie genauso gut zu Ende, wie sie begonnen hat. Das würden Sie verdienen. Alles Gute, Steve.
Gabriella las den Brief ein zweites Mal. Dann legte sie ihn bestürzt und nachdenklich beiseite. Offenbar hatte er es nicht leicht im Leben, und sie nahm sich vor, ihm künftig etwas freundlicher zu begegnen. Warum sie am Anfang so misstrauisch gewesen war, wusste sie nicht. Vielleicht, weil er sich so auffällig um das Wohlwollen aller Mitbewohner bemüht hatte. Jetzt schämte sie sich für ihren Argwohn. Vielleicht sollte sie wirklich mit ihm zur Christmette gehen. Sie wäre es Joe und Mutter Gregoria ohnehin schuldig, die beiden in ihre Gebete einzuschließen.
Während sie ihr Notizbuch hervorholte und zu schreiben begann, vergaß sie Steve. Erst am Heiligen Abend sah sie ihn wieder und erklärte ihm, sie würde ihn zur Mitternachtsmesse begleiten. Freudestrahlend dankte er ihr, und sie verspürte erneut Gewissensbisse. Das gestand sie dem Professor, als sie mit ihm in seinem Zimmer zu Abend aß.
»Deshalb sollten Sie sich nicht schuldig fühlen«, tadelte er. »Gewiss, er ist ein netter Bursche – und im Augenblick geht's ihm halt ziemlich schlecht.« Da Steve noch immer keinen Job gefunden hatte, fragte sich der Professor allmählich, ob der Junge zu hohe Ansprüche stellte und womöglich glaubte, er müsste General Motors managen. Aber er wirkte keineswegs so arrogant, wie Gabbie das anfangs geglaubt hatte, sondern einfach nur liebenswürdig und umgänglich.
Nachts um halb zwölf trafen sie sich in der Halle. Steve hielt ihr die Tür auf, und sie traten in die bittere Kälte hinaus. Auf dem Gehsteig glitzerte eine Frostschicht, und wenn sie miteinander sprachen, bildete ihr Atem
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