Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Easthampton geknipst. Damals war sie fünf Jahre alt gewesen. Auch diesen Schnappschuss zerfetzte Eloise und warf ihn weg. »Denk nicht mehr an deinen Vater! Damit würdest du nur deine Zeit verschwenden. Jetzt kann er dich nicht mehr retten«, fügte sie spöttisch hinzu.
In Gabriellas Augen brannten Tränen. Das Einzige, was sie noch schmerzlicher traf als die ständigen Prügel, war die Gewissheit, dass sie den Vater nie wiedersehen würde – und dass er sie niemals geliebt hatte. Das versicherte ihr die Mutter jeden Tag. Anfangs fiel es ihr schwer, daran zu glauben, obwohl es stimmen musste. Sein Schweigen schien es zu bestätigen. Wenn er sie trotz allem liebte, würde er ihr doch irgendwann schreiben. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen.
Ein Jahr nach seiner Abreise verbrachte sie das Weihnachtsfest ganz allein im Haus an der Sixty-ninth Street. Ihre Mutter feierte mit Freunden, und abends wurde sie von einem Kalifornier ausgeführt. Er war groß, dunkelhaarig und attraktiv, und er sah ganz anders aus als Gabriellas Vater. Ein paar Mal sprach er mit ihr, wenn er Mommy abholte. Aber Eloise machte ihm klar, das sei überflüssig und unerwünscht. In vagen Worten erwähnte sie den »bösartigen Charakter« ihrer Tochter. Für sie sei das so schmerzlich, dass es ihr widerstrebe, darüber zu reden. Da verstand er, dass er ihre Gunst nicht gewinnen würde, wenn er sich mit dem kleinen Mädchen anfreundete, und ging ihm aus dem Weg.
Auch andere Männer kamen ins Haus. Aber die Mutter schien den Kalifornier zu bevorzugen, der Frank hieß– Franklin Waterford. Gabriella erfuhr nicht viel über ihn, nur dass er aus San Francisco stammte und während der Wintermonate in New York lebte. Warum, verstand sie nicht. Mit ihrer Mutter sprach er sehr oft von Kalifornien und betonte, dort würde sie sich sicher wohl fühlen. Schließlich verkündete Eloise, demnächst würde sie mit Frank für sechs Wochen nach Reno fahren. Gabriella hatte keine Ahnung, wo das lag und was Mommy dort wollte. Die beiden erklärten ihr auch nichts. Sie wusste nur, was sie hörte, wenn sie an ihrem Zimmer vorbeigingen und sich angeregt unterhielten – oder wenn sie abends mit ihren Drinks in der Bibliothek saßen und lachten. Musste sie die Schule schwänzen, wenn sie Mommy nach Reno begleitete? Solche Fragen durfte sie natürlich nicht stellen, sonst würde sich ihre Mutter maßlos ärgern.
Also wartete sie einfach ab. Jeden Tag, wenn sie von der Schule nach Hause kam, durchsuchte sie die Post und hoffte, einen Brief von ihrem Vater zu finden. Aber er schrieb ihr nicht. Eines Nachmittags beobachtete Eloise, wie Gabriella die Briefe inspizierte. Prompt geschah das Unvermeidliche. Aber Mommy schlug nicht mehr so kraftvoll zu – und immer seltener. Inzwischen war sie viel zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um ihrer Tochter »Disziplin« beizubringen. Meistens begnügte sie sich mit dem Hinweis, Gabriella sei ein hoffnungsloser Fall. Deshalb habe der Vater die Familie ja auch verlassen, nicht wahr? Nun könne man nicht mehr erwarten, dass sie ihre Zeit mit der Erziehung eines unverbesserlichen Kindes vergeudete. Die Mühe würde sich ohnehin nicht lohnen. Immer häufiger blieb Gabriella sich selbst überlassen, was ihr wenig ausmachte. Wenn sie genug Lebensmittel in der Speisekammer oder im Kühlschrank fand, was nur selten geschah, bereitete sie sich eigenständig ihr Abendessen zu.
Jeden Nachmittag um fünf beendete Jeannie, die Haushälterin, ihre Arbeit. Wann immer sie glaubte, sie dürfte es wagen, stellte sie ein Abendessen für Gabriella auf den Herd. Wenn sie zu viel Aufhebens um das kleine Mädchen machte oder es »verwöhnte« und zu oft mit ihm sprach, würde es bitter dafür büßen müssen. Das wusste sie, und so heuchelte sie Desinteresse und versuchte sich nicht vorzustellen, was geschehen mochte, wenn Gabriella mit ihrer Mutter allein war. Noch nie hatte Jeannie so traurige Kinderaugen gesehen, und dieser Anblick tat ihr in der Seele weh. Doch sie vermochte nichts zu unternehmen. Der Vater war verschwunden und hatte die Kleine ihrer brutalen Mutter ausgeliefert. Was sollte die Haushälterin daran ändern? Sie war machtlos, aber sie versuchte Gabriella wenigstens ein bisschen zu helfen, indem sie eine Suppe bereitstellte oder kalte Umschläge auf die Prellungen legte, die sich das Kind angeblich auf dem Schulhof zugezogen hatte. Natürlich wusste Jeannie, dass man sich auf keinem Schulhof
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