Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
ist niemand mehr da, der dich beschützen würde ...«
Und dann fiel Eloise über das Kind her. Gabriella begann zu verstehen, was geschehen war. Der Vater war fortgegangen. Deshalb hatte er sie letzte Nacht besucht – um sich zu verabschieden. Jetzt blieb sie ganz allein zurück in dieser Hölle, die ihr Leben war – in einer Hölle voller Prügel und Qualen und Schmerzen. Er hatte erklärt, sie müsse tapfer sein und dass er an ihre Stärke glaubte. Während die Fausthiebe auf sie herabprasselten, klammerte sie sich an die Worte des Vaters. Verzweifelt kämpfte sie mit den Tränen, konnte sie aber nicht unterdrücken.
Wie sollte sie diesen Albtraum überstehen? Daddy würde sie hassen, hatte Mommy behauptet. Aber Gabriella wusste, dass das nicht stimmte. Oder doch? Niemals war er ihr zu Hilfe geeilt, niemals hatte er sie vor den brutalen Schlägen ihrer Mutter gerettet. Und jetzt war er verschwunden, aus welchen Gründen auch immer. Angst und Entsetzen stiegen in ihrer Kehle hoch wie bittere Galle.
5
Das restliche Jahr bis zu Gabriellas zehntem Geburtstag war ein Kaleidoskop aus Schwarz und Dunkelgrau, mit wechselndem Muster. Doch das Grauen blieb immer gleich, mochten sich die Farben auch verändern. Ihr Vater war spurlos verschwunden. Niemals kam er zu Besuch, niemals rief er an, niemals schrieb er ihr, um zu erklären, warum er sich von seiner Familie getrennt hatte.
Als Eloise den ersten Brief von seinem Anwalt erhielt, geriet sie in so wilde Wut, dass sie ihr Kind erwartungsgemäß fast bewusstlos schlug. Nur die eigene Erschöpfung bewog sie schließlich, von Gabriella abzulassen. Auch in den nächsten Tagen kannte sie keine Gnade. An allem, was seit der Geburt des Kindes geschehen war, gab sie ihm die Schuld. Unentwegt betonte sie, der Vater würde Gabriella hassen und sie auch nicht mehr brauchen, weil die Frau, die er heiraten wollte, zwei kleine Töchter habe. »Die sind nicht so schlimm wie du!«, schrie sie erbost. »Sie sind hübsch und nett, benehmen sich ordentlich, und deshalb liebt er sie.«
Ein einziges Mal versuchte Gabriella zu widersprechen und die Gefühle zu verteidigen, die der Vater ihr entgegenbrachte – obwohl sie sich nicht mehr so sicher war, seit er sie im Stich gelassen hatte. Da holte Eloise ein Stück Kernseife, zwang Gabriella, sie in den Mund zu nehmen, und wusch ihr gründlich den Mund aus. Der Schaum drang in Gabriellas Kehle, und sie musste sich übergeben, spie den beißenden Schleim und den bitteren Geschmack ihres Kummers aus. Daddy liebte sie. Das wusste sie, oder sie bildete sich's ein – oder sie wollte daran glauben. Bis sie schließlich nicht mehr wusste, was sie denken sollte.
Meistens war sie allein zu Hause, las und schrieb ihre Geschichten oder Briefe an den Vater, die sie nicht abschicken konnte. In Abwesenheit ihrer Mutter hatte sie vergeblich nach seiner Adresse gesucht. Natürlich wagte sie nicht, danach zu fragen. Und so zerriss sie all diese Briefe und warf sie weg. Sie wusste jedoch, in welcher Bank er arbeitete. Als sie aber dort anrief, erfuhr sie, er habe gekündigt und sei nach Boston gezogen. Genauso gut hätte er in eine andere Galaxis übersiedeln können. Nicht einmal an ihrem zehnten Geburtstag hörte sie etwas von ihm. Da wusste sie, dass sie ihn endgültig verloren hatte.
Manchmal dachte sie voller Wehmut an jene letzte Nacht, in der er in ihr Zimmer gekommen war und flüsternd mit ihr gesprochen hatte. Wenn sie ihm erklärt hätte, wie viel er ihr bedeutete – vielleicht wäre er dann bei ihr geblieben und hätte sie nicht wegen dieser beiden anderen kleinen Mädchen verlassen, die Mommy dauernd erwähnte, die so brav waren, die er jetzt liebte. Oder wenn sie bessere Noten in der Schule bekommen hätte, was allerdings kaum möglich war ... Wenn er sie nicht ins Krankenhaus hätte bringen müssen ... Oder wenn sie die Mutter nicht dazu gebracht hätte, ihn ebenso zu hassen wie ihre Tochter ... Vielleicht wäre er dann nicht weggelaufen. Oder – womöglich lebte er gar nicht mehr. Hatte er einen tödlichen Unfall erlitten, und sie wusste es nicht? Dieser Gedanke nahm ihr den Atem. Würde sie ihm nie mehr begegnen und schließlich vergessen, wie er aussah?
Manchmal starrte sie seine Fotos an. Zwei standen auf dem Klavier, mehrere in der Bibliothek. Dabei wurde sie eines Tages von ihrer Mutter beobachtet, die sofort alle Bilder aus den Rahmen zerrte und in winzige Stücke zerriss. In Gabriellas Zimmer stand ein Urlaubsfoto, in
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