Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Sie kannte ihn kaum. Jedenfalls sah er gut aus und war sehr nett zu ihrer Mutter. Die beiden schrien sich niemals an. Also musste sich Mommy wohl besser mit ihm verstehen als damals mit Daddy. Angstvoll überlegte Gabriella, wie sie mit ihm auskommen würde. Sie hatte keine Ahnung, ob er sie mochte, weil er nie mit ihr sprach. Würde sie ihn ebenso enttäuschen wie ihre Eltern? Wahrscheinlich. Mit dieser Furcht musste sie leben. Wann immer sie jemanden lieb gewann, würde er sie eines Tages hassen und verlassen, so wie Daddy. Und wenn ihr eigener Vater solche Gefühle hegte, wer sollte sie jemals mögen. Aber vielleicht war Frank anders? Schwer zu sagen ...
Um sich von ihren Sorgen abzulenken, schrieb sie Geschichten über Frank. Als Eloise dahinter kam, zerriss sie diese Werke und nannte ihre Tochter eine kleine Hure, die es selber auf Frank abgesehen habe. Was Mommy damit meinte und warum sie so böse war, verstand Gabriella nicht. In ihren Geschichten spielte Frank die Rolle eines Märchenprinzen, und dafür wurde sie geohrfeigt. Zweifellos wäre Frank entsetzt darüber gewesen. Aber er ahnte nichts, weil er sich ja in Kalifornien aufhielt.
An einem sonnigen Samstagmorgen, zwei Wochen nach Ostern, saß Eloise ihrer Tochter am Frühstückstisch gegenüber und lächelte sie an – zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Gabriella erschrak. In den dunklen Augen erschien ein seltsames Glitzern, das nichts Gutes verhieß– und deshalb musste sich ihre Tochter in Acht nehmen. »Morgen fahre ich nach Reno«, begann Eloise in fröhlichem Ton. »Hast du deine Sachen gepackt?«
Schweigend nickte Gabriella. Nach dem Frühstück ging ihre Mutter ins Kinderzimmer, inspizierte den Koffer und erhob keine Einwände. Erleichtert atmete das Kind auf. Dann schaute sich Eloise um, als wollte sie feststellen, ob ihre Tochter etwas vergessen hatte. Offensichtlich war sie zufrieden. An den Wänden hingen keine Bilder. Gabriella hatte nie welche besessen. Und jenes einzige Foto von ihrem Vater hatte die Mutter vernichtet. Auf dem Linoleumboden des schmucklosen Zimmers, den Jeannie jeden Dienstagnachmittag schrubbte, standen nur ein Bett, ein Schrank und ein Stuhl, an den Fenstern hingen schlichte weiße Vorhänge.
»Du brauchst keine eleganten Sachen«, erklärte Eloise. »Nimm das rosa Kleid wieder aus dem Koffer.« Hastig gehorchte Gabriella und hängte das Kleid in den Schrank zurück. »Vergiss deine Schuluniformen nicht!« Dieser Befehl verwirrte sie. Aber diese Sachen hatte sie ohnehin eingepackt, weil sie warm und angenehm zu tragen waren. Außerdem wusste sie nicht, wie lange sie in Reno bleiben würden. Nun wandte sich Mommy zu ihr und musterte sie sarkastisch – eine Miene, die Gabriella nur zu gut kannte. »Im Juni wird dein Vater heiraten. Darüber freust du dich sicher.«
Aber Gabriella empfand nur Erleichterung, vermischt mit bitterer Enttäuschung, denn jetzt wusste sie endgültig, dass er nie mehr zu ihr zurückkehren würde. Wenigstens war er nicht bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Das hatte sie befürchtet, von seinem beharrlichen Schweigen beunruhigt, und sogar eine Geschichte darüber geschrieben. Diese erfundenen Ereignisse waren ihr viel zu real erschienen. Eine Zeit lang hatte sie ernsthaft an Daddys Tod geglaubt.
»Nie wieder wirst du von ihm hören«, betonte die Mutter zum zehntausendsten Mal. »Wir interessieren ihn nicht. Weder mich noch dich hat er jemals geliebt. Das darfst du nie vergessen, Gabriella.
Nie
hast du ihm irgendwas bedeutet.« Eindringlich starrte sie das Kind an und schien auf eine Antwort zu warten. »Weißt du das?«
Gabriella nickte. Am liebsten hätte sie erklärt, das würde sie nicht glauben. Doch damit hätte sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Inzwischen war sie viel zu klug, um ihren Vater zu verteidigen und sich selbst in Gefahr zu begeben. Vielleicht hatte er sie tatsächlich nie geliebt, weil sie so ein schlimmes kleines Mädchen gewesen war. Hätte sie sich besser benommen, wäre er wahrscheinlich hier geblieben ... Aber sie erinnerte sich an den Ausdruck seiner Augen in jener letzten Nacht, als er in ihr Zimmer gekommen war. Dieser Blick hatte ihr seine Liebe verraten – mochte Mommy behaupten, was sie wollte. Wie verwirrend das alles war ...
An diesem Abend ging Eloise mit Freunden aus, und Gabriella machte sich ein Sandwich, das sie in der Küche verspeiste. Im Haus war es still und friedlich. Lange saß sie am Tisch und dachte über die
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