Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
geheimnisvolle Reise nach, die sie am nächsten Tag antreten würden. Was erwartete sie in Reno? Warum flogen sie dorthin? Das verstand sie noch immer nicht. Sie musste eben abwarten, bis sie ihr Ziel erreichten. Dann würde sie eine Antwort auf alle Fragen finden. Aber es beunruhigte sie ein wenig, gar nichts zu wissen. Bei dem Gedanken, dass sie am nächsten Morgen ihr Heim verlassen würde, stieg eine sonderbare Trauer in ihr auf. Unter diesem Dach hatte sie mit ihrem Vater gelebt. Manchmal glaubte sie zu sehen, wie er umherwanderte, und sein Aftershave zu riechen.
Nun, allzu lange würden sie nicht in Reno bleiben. Vielleicht war die Reise ein interessantes Abenteuer. Wenn sie sehr brav war, würde Frank womöglich mit ihr reden und sie sogar mögen. Während sie langsam die Treppe hinaufstieg, nahm sie sich vor, ihr Bestes zu tun.
Als die Mutter in dieser Nacht nach Hause kam, schlief Gabriella tief und fest und hörte sie nicht an ihrer Tür vorbeigehen. Lächelnd kleidete sich Eloise aus, an der Schwelle eines neuen Lebens, das ihr die Chance bot, alle Enttäuschungen zu überwinden. Sie konnte den nächsten Tag kaum erwarten. Erst am Abend würde sie in den Zug steigen. Das hatte sie ihrer Tochter noch nicht mitgeteilt.
Um sich nicht zu verspäten und Mommy keinen Ärger zu bereiten, stand Gabriella schon im Morgengrauen auf. Um neun Uhr kam Eloise zum Frühstück herunter. Da hatte Gabriella bereits Kaffee gekocht. Vorsichtig, um keinen einzigen Tropfen zu verschütten, stellte sie eine gefüllte Tasse vor der Mutter auf den Tisch. So ein Missgeschick passierte ihr nur noch selten. Die meisten ihrer Lektionen hatte sie perfekt gelernt. Der Kaffee hatte genau die Temperatur, die ihrer Mutter zusagte. Schweigend nippte Eloise an der Tasse – für ihre Tochter ein Zeichen, dass sie ihr nicht auf die Nerven fiel. Noch nicht. Doch das konnte sich jeden Augenblick ändern – so plötzlich, wie ein Sommergewitter losbrach.
Bevor die Mutter zu sprechen begann, verging eine volle halbe Stunde. Zuerst fragte sie, ob ihre Tochter reisefertig sei. Eifrig nickte Gabriella. Ehe sie nach unten gegangen war, hatte sie den Koffer geschlossen. Sie trug einen grauen Rock und einen weißen Pullover. Den marineblauen Blazer hatte sie sorgfältig zusammengefaltet und in ihrem Schlafzimmer über die Lehne des Stuhls gelegt – genauso, wie es der Mutter gefiel. Die schwarzen Lackschuhe waren glänzend poliert, die Socken blütenweiß und einmal umgeschlagen – so, wie Mommy es ihr gezeigt hatte. Mit ihren blonden Locken, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und den großen blauen Augen bot sie einen Anblick, der jedes Herz rühren musste. Nur nicht das Herz ihrer Mutter. In ihrem elften Lebensjahr war sie ein bildhübsches Mädchen, nicht mehr schlaksig und ungelenk, und sie ließ bereits die ersten Anzeichen ihrer künftigen Schönheit erkennen, was Eloise missbilligend zur Kenntnis nahm.
Während Gabriella nach oben ging, um ihren Hut aufzusetzen, die Handschuhe und den Blazer anzuziehen und den Koffer zu holen, wartete Eloise neben der Haustür. Wenige Minuten später stieg das Kind die Treppen herab und stellte fest, dass die Mutter ihr eigenes Gepäck noch nicht heruntergetragen hatte. Vermutlich erwartete sie, das würde ihre Tochter tun, und so kehrte Gabriella um.
»Wohin gehst du?«, rief Eloise ungeduldig. An diesem Tag hatte sie noch tausend Dinge zu erledigen, und sie wollte keine einzige Sekunde vergeuden.
»Ich hole dein Gepäck«, erwiderte Gabriella und warf einen Blick über die Schulter.
»Darum kümmere ich mich später. Beeil dich jetzt!« Dieser Befehl verwirrte Gabriella. Aber sie durfte keine Erklärung verlangen.
Um elf Uhr vormittags brachen sie auf. Sie bemerkte, dass ihre Mutter einen grauen Rock und einen alten schwarzen Pullover angezogen hatte. Normalerweise trug sie diese Sachen nur im Haus oder wenn sie einkaufen ging. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie nicht für eine Reise gekleidet. Nicht einmal einen Hut hatte sie aufgesetzt, was nur selten vorkam. Trotz ihrer Verwunderung verließ Gabriella wortlos die Halle, ihren kleinen Koffer in der Hand. Draußen drehte sie sich noch einmal um und betrachtete das Haus, in dem sie so viel Leid erduldet hatte. Plötzlich wurde sie von kalter Angst erfasst. Irgendetwas stimmte hier nicht. Am liebsten wäre sie zurückgelaufen, um sich im großen Schrank hinter der Treppe zu verstecken. Das hatte sie zwei Jahre lang nicht mehr getan.
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