Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
würde sie von diesen wunderbaren Frauen trennen. In dieser Nacht schlief sie friedlich, bis die Albträume zurückkehrten, mit all den Geräuschen und dem Grauen, an das sie sich so lebhaft erinnerte. Das Gesicht ihrer Mutter, ihr Hass, die Schläge – der Geruch des Krankenhauses – und der Anblick des Vaters, der untätig in der Tür stand. Das alles suchte sie wieder heim, während sie zusammengerollt am Fußende des Betts lag und sich erfolglos bemühte, den bösen Träumen zu entfliehen.
Schließlich erwachte sie, richtete sich auf und starrte ins Dunkle des Zimmers, das jetzt ihr Heim war. Selbst wenn die bösen Träume sie bis in alle Ewigkeit peinigen würden – wann immer sie die Augen öffnete, würde sie wissen, dass sie in Sicherheit war.
Eine der Schwestern spähte zur Tür herein und sah Gabriella zitternd auf dem Bett sitzen, von der scheinbaren Realität des Albtraums erschüttert. Wie die anderen Nonnen hatte auch diese sich an das nächtliche Geschrei des Mädchens fast gewöhnt. Darüber erschraken sie nicht mehr, aber sie empfanden tiefes Mitleid mit Gabriella.
»Alles okay?«, wisperte die Schwester.
Gabriella nickte, lächelte unter Tränen und versuchte in die Gegenwart zurückzukehren.
»Verzeihen Sie mir, dass ich Sie geweckt habe.«
Alle Bewohnerinnen des Klosters hatten sich mit Gabriellas Albträumen abgefunden. Darüber sprach sie selbst niemals. Sie gab keine Erklärungen ab, und so konnten sie nur vermuten, was sie vor ihrer Ankunft im St. Matthew's erlebt hatte.
Jetzt würden ihr die Dämonen nichts mehr anhaben. Sie legte sich wieder hin und dachte an Mutter Gregorias Frage, ob sie ihre Eltern noch vermissen würde.
Nein, sie vermisste Mommy und Daddy nicht mehr, erinnerte sich nur an sie und versuchte zu ergründen, warum sie ihre Tochter nicht geliebt hatten. War es die Schuld ihrer Mutter und ihres Vaters? Oder ihre eigene? Hatte sie ihnen etwas Furchtbares angetan? Oder hatten sie sich an
ihr
versündigt? Auf diese Fragen fand sie keine Antwort.
8
Im August begann der Lehrgang für die Postulantinnen. Begeistert nahm sie daran teil. Sie tat alles, was sie zuvor bei anderen beobachtet hatte, ließ ihr Haar abschneiden und vertauschte ihre gewohnte Kleidung mit der schlichten Tracht, die alle Postulantinnen trugen, bis sie ein Jahr später zu Novizinnen avancierten. Danach würde noch ein weiter Weg vor Gabriella liegen – zwei Jahre würde sie Novizin bleiben und dann zwei weitere Jahre lang eine spezielle Ausbildung absolvieren, bevor sie ihr Ordensgelübde ablegen durfte. Von diesem großen Augenblick träumte sie ebenso sehnsüchtig wie ihre Mitschülerinnen.
Unzählige Pflichten musste sie erfüllen. Die meisten waren ihr weder fremd noch unangenehm. Während der letzten Jahre hatte sie im klösterlichen Haushalt so hart gearbeitet, dass ihr nichts zu mühsam oder zu widerwärtig erschien. Sogar erniedrigende Aufgaben übernahm sie frohen Herzens. Die Lehrerin der Postulantinnen, die Lehrerin der Novizinnen und Mutter Gregoria versicherten einander immer wieder, Gabriella habe die richtige Entscheidung getroffen. Sie hatte den Namen Schwester Bernadette gewählt. Von den anderen Postulantinnen wurde sie Schwester Bernie genannt.
Mit den meisten verstand sie sich sehr gut. Sie saßen zu acht im Klassenzimmer, und sechs Kameradinnen schauten fast ehrfürchtig zu ihr auf. Aber die siebte, die aus Vermont stammte, widersprach ihr ständig, versuchte alle Mädchen gegen sie einzunehmen und erklärte der Lehrerin, Gabriella sei arrogant und respektiere die älteren Nonnen nicht. Die Lehrerin erwiderte, Gabbie würde seit ihrem elften Lebensjahr im St. Matthew's leben und sich hier heimisch fühlen. Deshalb seien ihr alle Nonnen, auch die alten, lieb und vertraut. Da behauptete die Postulantin aus Vermont, Gabriella sei eitel, und schwor, sie habe in eine Fensterscheibe gestarrt und ihr Bild betrachtet – weil es im Kloster ja keine Spiegel gebe.
»Vielleicht hat sie über irgendwas nachgedacht.«
»Über ihr Aussehen!« Die unscheinbare Postulantin hatte sechs Monate nach einer gescheiterten Verlobung beschlossen, in den Orden einzutreten, und die Lehrerin zweifelte stark an der Berufung des Mädchens. Umso fester war sie von Schwester »Bernies« Eignung zur Nonne überzeugt. Noch nie hatte Gabriella glücklicher gelächelt, und ihr offenkundiger Enthusiasmus erfreute alle Schwestern.
In diesem Jahr verfasste sie eine Weihnachtsgeschichte, die sie für jede
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