Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
für eine Zeitschrift oder Zeitung? So viele Möglichkeiten stehen dir offen. Du könntest auch an der St. Stephen's School unterrichten und in deiner Freizeit schreiben.« Geduldig sprach Mutter Gregoria auf das Mädchen ein. Sie wusste, dass Gabriella einen Anstoß brauchte.
»Darf ich weiterhin hier wohnen, wenn ich einen Job annehme – irgendeinen?«, fragte ihr Schützling besorgt.
Die Oberin runzelte die Stirn. Diese Angst vor der Außenwelt erschien ihr krankhaft. Niemals gestattete sich Gabriella, ein bisschen Freiheit zu schnuppern. Sie schloss keine Freundschaften, kannte keine Männer. Bevor sie das Leben da draußen ablehnte, musste sie es erst einmal kennen lernen.
Aber sie würde es nicht ertragen, St. Matthew's zu verlassen. »Wenn ich Geld verdiene, zahle ich für Kost und Logis. Vielleicht wird's noch eine Weile dauern, bis ich's mir leisten kann.« Darum machte sie sich schon seit Monaten Sorgen. Über die Hälfte ihres Lebens hatte sie im Kloster verbracht. Mit aller Macht wollte sie hier bleiben. Dafür gab es einen bestimmten Grund, den sie der Oberin anvertrauen musste.
»Selbstverständlich kannst du hier bleiben, Gabbie. Wenn du's unbedingt willst, gib uns ein bisschen Geld dafür. Obwohl's nicht nötig wäre, nachdem du all die Jahre so fleißig im Haushalt gearbeitet hast.«
Seit Gabriellas achtzehntem Geburtstag schickte ihre Mutter keine Schecks mehr. Warum sie aufhörte, den Lebensunterhalt ihrer Tochter zu bestreiten, hatte sie weder schriftlich noch telefonisch erklärt. Offenbar glaubte Eloise Harrison-Waterford, sie hätte ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Seit ihrer Übersiedlung nach Kalifornien war sie nie in Verbindung mit ihrem Kind getreten. Gabriella nahm außerdem an, dass ihr Vater nicht wusste, wohin die Mutter sie gebracht hatte. Aber er hatte sich ja auch nicht bei ihr gemeldet, als sie noch daheim gewesen war, bei Mommy. Er wollte einfach nichts mit ihr zu tun haben, genauso wenig wie die Mutter. Im Columbia College hatte Gabbie behauptet, sie sei verwaist. Ihre Kommilitonen hatten es bald aufgegeben, ihr Fragen zu stellen, weil sie so scheu und distanziert gewesen war. Den jungen Männern, die sie attraktiv fanden und Interesse an ihr zeigten, erteilte sie eine Abfuhr. Sie zog ihre Isolation vor.
Nur mit den Nonnen pflegte sie gesellschaftliche Kontakte. Für einen so jungen Menschen war das ungewöhnlich, vielleicht sogar krankhaft. Aber Mutter Gregoria hatte es seit Jahren kommen sehen, und sie mochte das Mädchen weder in die eine noch in die andere Richtung drängen. Gabriella musste auf ihre eigene innere Stimme hören. Was sie an diesem milden Juniabend erzählte, überraschte die Oberin nicht.
»In letzter Zeit habe ich viel nachgedacht«, begann sie schüchtern und zögernd. Was sie tief im Inneren bewegte, musste sie der Frau, die ihr die Mutter ersetzte, endlich erklären. Seit dem Albtraum ihrer Kindheit liebte sie die alte Nonne. Über ihr früheres Leben sprach sie nur selten. Sie hatte nur erwähnt, bei ihren »unfreundlichen« Eltern sei sie sehr unglücklich gewesen. Wie oft ihre Mutter sie geschlagen hatte, verschwieg sie.
Aber angesichts der zahlreichen Narben am Körper des Kindes hatte die Oberin zwei und zwei zusammengezählt. Vor einigen Jahren war Gabriella an einer schlimmen Bronchitis erkrankt und geröntgt worden. Dabei hatten sich die Spuren wiederholter Rippenbrüche gezeigt. Und die kleine Narbe hinter ihrem rechten Ohr verriet, warum sie manchmal schlecht hörte.
Sie holte tief Atem, dann versuchte sie in Worte zu fassen, was in ihr vorging. Damit hatte Mutter Gregoria bereits gerechnet. Es war an der Zeit. »Immer wieder glaube ich, Stimmen zu hören. Und diese sonderbaren Träume ... Anfangs dachte ich, das alles würde ich mir nur einbilden. Aber es lässt mir keine Ruhe ...«
»Was für Träume?«, fragte die alte Frau interessiert.
»Da bin ich mir nicht sicher. Es kommt mir fast so vor, als würde mich jemand zu etwas drängen, das ich mir niemals zugetraut habe – weil ich nicht gut genug dafür bin ... Ach, ich weiß es nicht ...« Hilflos, die Augen voller Tränen, schaute Gabriella die Nonne an, die ihr so viel bedeutete. »Was sagen mir diese Stimmen?«
Das wusste Mutter Gregoria nur zu genau. Manche Mädchen kannten keine Zweifel. Und andere – meistens die wahrhaft berufenen – fragten sich angstvoll, ob sie den hohen Anforderungen genügen würden. Diese Skepsis sah Gabriella ähnlich, obwohl sie genau
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