Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
kein Platz für mich. Darüber bin ich sehr froh. Wäre ich zu ihr zurückgekehrt, hätte sie mich vermutlich getötet.«
Auf diese Enthüllungen folgte ein kurzes Schweigen. Offenbar musste der Priester seine Bestürzung überwinden. »Ich verstehe.«
Nun wollte sie ihm auch noch erzählen, was ihr in letzter Zeit am schwersten auf der Seele lag. »Anne erinnert mich an meine Mutter. Vielleicht hasse ich sie deshalb. Ständig schreit sie mich an und wirft mir vor, wie schrecklich ich bin – genauso wie früher meine Mutter. Und ich glaubte ihr.«
»Glauben Sie Schwester Anne auch?« Gabriellas Knie begannen zu schmerzen, weil sie schon so lange im Beichtstuhl kniete. Heiße stickige Luft erfüllte das Dunkel. »Nehmen Sie ernst, was Schwester Anne behauptet? Dass Sie so schrecklich sind?« Ihr Problem faszinierte den Priester.
»Manchmal. Meiner Mutter habe ich immer geglaubt. Wäre ich nicht so unartig gewesen – warum hätten mich meine Eltern verlassen sollen? Irgendetwas muss ich an mir haben, das die Menschen abstößt.«
»Sicher nicht«, entgegnete er mit sanfter Stimme, und sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen. »Nicht Sie haben gesündigt, sondern Ihre Eltern. Vielleicht gilt das auch für Schwester Anne, obwohl ich sie nicht kenne. Nach meiner Ansicht ist sie einfach nur eifersüchtig auf Sie – weil Sie so zuversichtlich wirken und sich im Matthew's heimisch fühlen. Kein Wunder, hier haben Sie den Großteil Ihres bisherigen Lebens verbracht. Und Schwester Anne beneidet Sie darum.«
»Was soll ich dagegen tun?«, fragte Gabriella bedrückt.
Zu ihrer Verblüffung lachte er leise. »Sagen Sie ihr, sie soll Sie in Ruhe lassen oder ihre Boxhandschuhe hervorholen. Als ich das Priesterseminar besuchte, boxte ich gegen einen anderen Studenten, mit dem ich immer wieder stritt. Offenbar war das die einzige Lösung des Problems.«
»Und was ist passiert?«, flüsterte sie und amüsierte sich nun über das unkonventionelle Geständnis. Diese Beichte kam ihr eher wie eine Therapie vor. Wer immer der unbekannte Priester sein mochte, sie fand ihn sehr sympathisch, und sie glaubte, er könnte ihr helfen. Jedenfalls wusste sie sein Mitgefühl, seine Klugheit und seinen Humor zu schätzen. »War der Boxkampf erfolgreich?«
»O ja, der Bursche verpasste mir ein fantastisches blaues Auge und schlug mich fast k. o. Seltsamerweise waren wir danach die besten Freunde. Zu Weihnachten schreibt er mir immer noch. Jetzt arbeitet er als Missionar in einer kenianischen Leprakolonie.«
»Vielleicht sollten wir Schwester Annes Noviziat beschleunigen, dann könnte sie ihm nach Kenia folgen.« Auf dem College hatte sie sich nie so ungezwungen mit den Studenten und Studentinnen oder den Professoren unterhalten.
Nun lachte die jugendliche Stimme wieder. »Schlagen Sie's ihr vor. Aber erst mal beten Sie drei Ave-Marias und ein Vaterunser«, entschied er, wieder in ernstem Ton.
»Mehr nicht? Sie lassen mich viel zu glimpflich davonkommen, Vater.«
»Beschweren Sie sich?«
»Nein, ich bin nur überrascht. Die anderen Priester machen mir's nicht so leicht.«
»Dann haben Sie eine Erholungspause verdient, Schwester. Nehmen Sie das alles nicht so schwer. Irgendwie habe ich den Eindruck gewonnen, es ist eher Schwester Annes Problem als Ihres. Verwechseln Sie das Mädchen nicht mit Ihrer Mutter. Niemand kann Sie jetzt noch quälen – nur Sie selbst. Und vergessen Sie nicht – Sie sollen Ihren Nächsten lieben wie sich
selbst.
Denken Sie bis zur nächsten Beichte darüber nach.«
»Danke, Vater.«
»Gehen Sie hin in Frieden, Schwester«, murmelte er, und sie verließ den Beichtstuhl.
Im Hintergrund der Kirche kniete sie in einer Bank nieder, um die drei Ave-Marias und das Vaterunser zu beten. Als sie wenig später aufblickte, sah sie Schwester Anne den Beichtstuhl betreten. Das Mädchen blieb sehr lange drinnen. Schließlich kam es mit verweinten Augen heraus, und Gabriella hoffte, der Priester wäre nicht zu hart mit ihrer Widersacherin ins Gericht gegangen. Jetzt bereute sie, was sie ihm anvertraut hatte. Trotzdem fühlte sie sich viel besser. Am Kirchentor traf sie ihre Lehrerin, und sie unterhielten sich über eine ältere Nonne, die schon seit einiger Zeit krank war.
Aus den Augenwinkeln sah Gabriella Licht im Beichtstuhl aufflammen. Dann kam der Priester heraus. Verwirrt hielt sie den Atem an. Er war sehr groß und breitschultrig, mit dichtem rotblondem Haar. Als er die beiden Frauen entdeckte, die am Ausgang
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