Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
einzelne Nonne in ein Büchlein schrieb. Um daran zu arbeiten, saß sie nächtelang im Büro der Oberin. Am Weihnachtstag fanden die Schwestern die schmalen Bücher auf ihren Plätzen am Esstisch. Die Lehrerin der Novizinnen meinte, diese wunderbare Geschichte müsste veröffentlicht werden.
»Schon wieder macht sie sich wichtig!«, klagte Anne, die Postulantin aus Vermont, die kein bisschen weihnachtliche Gesinnung zeigte. Erbost sprang sie vom Tisch auf, rannte in ihr Zimmer und warf das kleine Buch, das Gabriella für sie angefertigt hatte, in den Abfallkorb.
Am Nachmittag ging Gabriella zu ihr und erklärte, das St. Matthew's sei seit vielen Jahren ihr Zuhause, und sie könne nicht verbergen, wie glücklich sie sich fühle, weil sie den Schleier nehmen und ihr ganzes Leben hier verbringen würde.
»Glaubst du, alle hier lieben dich, nur weil sie dich schon so lange kennen?«, fauchte Anne. »Du bist uns anderen nicht überlegen. Wenn du dich nicht so aufspielen würdest, könntest du sicher eine bessere Nonne abgeben. Hast du schon mal daran gedacht?«
Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut. Plötzlich erinnerte sie Gabbie an ihre Mutter. Die bitteren Vorwürfe trafen ihr Herz wie Messerstiche. Gegen Abend sprach sie mit Mutter Gregoria darüber. »Vielleicht hat sie Recht, und ich bin wirklich arrogant. Oder benehme ich mich so, ohne es zu merken?« Aber die Oberin versicherte ihr, das junge Mädchen aus Vermont sei einfach nur eifersüchtig.
In den nächsten drei Monaten entwickelte sich eine heilige Vendetta. Anne schwärzte Gabriella unablässig an und konfrontierte sie mit ihren »Fehlern«, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Allmählich fürchtete Gabriella, das Mädchen könnte charakterliche Mängel in ihr aufdecken, die tatsächlich existierten und sie daran hindern würden, Jesus Christus in wahrer Demut und voll echter Hingabe zu dienen. Täglich ging sie zur Beichte und begann an ihrer Berufung zu zweifeln. Im Frühling wuchs ihre Skepsis. Sie glaubte, bevor sie endgültig beschloss, dem Orden beizutreten, müsste sie sich bessern. Die grausame Beharrlichkeit, mit der das Mädchen sie verfolgte, war ihr viel zu schmerzlich vertraut. Eines Tages gestand sie dem Priester im Beichtstuhl, sie sei sich ihrer Berufung nicht mehr sicher.
»Warum glauben Sie das?« Die fremde Stimme klang erstaunt. Zu ihrer Verwirrung stellte Gabriella fest, dass ihr keiner der beiden Priester, die sie seit der Kindheit kannte, die Beichte abnahm.
»Dauernd wirft mir Schwester Anne Eitelkeit und Stolz vor, Arroganz und Selbstgerechtigkeit. Vielleicht muss ich ihr Recht geben. Wie kann ich dem Allmächtigen dienen, wenn es mir an Demut und Bescheidenheit mangelt? Und außerdem ...« Während sie weitersprach, errötete sie im Halbdunkel. »Ich fürchte – ich hasse das Mädchen.«
Auf der anderen Seite des hölzernen Gitters entstand ein kurzes Schweigen. Dann hörte sie wieder die freundliche Stimme des Priesters. Unwillkürlich fragte sie sich, wie er aussehen mochte. »Haben Sie schon früher Menschen gehasst?«
»Meine Eltern«, antwortete sie ohne Zögern.
»Und haben Sie das gebeichtet?« Offenbar interessierte er sich für ihr Problem, und sie erklärte, diese Sünde habe sie jahrelang gebeichtet – seit ihrer Ankunft im Kloster. »Warum haben Sie Ihre Eltern gehasst?«
»Weil sie mich schlugen.« Mit diesen freimütigen Worten überraschte sie ihn. Er saß erst zum zweiten Mal in einem der Beichtstühle von St. Matthew's, und er wusste nichts von Gabriella – nur dass sie zu den Postulantinnen zählte. »Eigentlich verprügelte mich nur meine Mutter – und mein Vater ließ es zu. Deshalb begann ich, auch ihn zu hassen.« So offenherzig hatte sie noch nie über ihre unglückliche Kindheit gesprochen. Sie fragte sich, warum sie diesem Fremden das alles anvertraute. Vielleicht musste sie für absolute Klarheit sorgen, um ihre Abneigung gegen Anne zu überwinden. Für dieses sündhafte Gefühl schämte sie sich zutiefst.
»Haben Sie Ihren Eltern jemals erklärt, was Sie empfanden?«, fragte der Priester, der jetzt nicht nur Gabriellas Beichte hören, sondern auch versuchen wollte, ihre seelischen Wunden zu heilen.
»Nein. Als ich neun Jahre alt war, verließ mein Vater meine Mutter und zog nach Boston. Ein paar Monate später brachte meine Mutter mich hierher. An jenem Tag sah ich sie zum letzten Mal. Kurz nach der Scheidung von meinem Vater heiratete sie wieder und entschied, in ihrem neuen Leben wäre
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