Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
scheint stets zu spüren, was in den Menschen vorgeht.« Sie schaute angstvoll zu ihm auf. »Wäre es möglich, dass uns jemand gesehen hat?« Sie hatten lange Spaziergänge unternommen – viel öfter, als sie es wagen durften. Vielleicht waren sie in der Fifty-third Street beobachtet worden, auf dem Weg zum Apartment.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Joe, der sich weniger Sorgen machte als Gabriella. Natürlich konnte er sich viel freier bewegen. Priester wurden nicht so streng kontrolliert wie Nonnen. Nach Belieben durfte er kommen und gehen, und niemand stellte ihm Fragen. Da er stets gewissenhaft, verantwortungsbewusst und vertrauenswürdig gewesen war, kamen seine Kollegen und Vorgesetzten gar nicht auf den Gedanken, er würde jemals ein Unrecht begehen. »Ich denke, sie will ihre Schützlinge einfach nur im Auge behalten.«
»Hoffentlich.«
Inzwischen hatte der August begonnen. Der Sommer schien immer schneller zu vergehen. Bald würden die Lehrerinnen in die Schule und die älteren Nonnen aus den Urlaubsorten in Lake George und in den Catskills zurückkehren. Das Küchenpersonal plante bereits ein Picknick für den Tag der Arbeit. Aber das alles interessierte Gabbie nicht, mit wachsendem Grauen blickte sie der Zukunft entgegen.
Am Tag der Arbeit erkrankte sie an Grippe. Nun wuchs das Unbehagen der Oberin. Offensichtlich litt Gabbie nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.
Wie üblich nahmen Joe und die anderen Priester am Picknick teil. Diesmal ging er Gabbie aus dem Weg. Das hatten sie am Morgen des Vortags beschlossen, weil sie fürchteten, jemand würde bemerken, wie freimütig sie miteinander sprachen. Vermutlich könnten sie nicht einmal die Intimität verbergen, die zwischen ihnen herrschte. Nach einigen Stunden zog sich Gabbie in ihr Zimmer zurück, weil sie sich zu krank fühlte, um etwas zu essen und mit den anderen zu plaudern. Bestürzt schaute Schwester Emanuel ihr nach, dann wandte sie sich zu Mutter Gregoria. »Was stimmt denn nicht mit ihr?« Noch nie hatte sie Gabbie so bedrückt gesehen.
»Da bin ich mir nicht sicher«, gestand die Oberin unglücklich. Etwas später besuchte sie das Mädchen, das emsig in sein Tagebuch schrieb. »Hast du was Neues verfasst?«, fragte die Oberin freundlich und sank in einen Sessel. »Darf ich's lesen?«
»Noch nicht«, entgegnete Gabriella mit schwacher Stimme und schob den schmalen Band unter ihr Kissen. »In letzter Zeit komme ich kaum dazu«, fuhr sie schuldbewusst fort. Aber ihr Gewissen plagte sie aus ganz anderen Gründen. »Tut mir Leid, dass ich das Picknick nicht gebührend würdigen kann.«
Beunruhigt musterte die Oberin das leichenblasse Gesicht der Postulantin. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Nur eine harmlose Grippe«, antwortete Gabriella nervös. »Daran sind während Ihrer Abwesenheit mehrere Schwestern erkrankt.« Das stimmte nicht, und Mutter Gregoria wusste es. Nur eine alte Nonne hatte in der Zwischenzeit eine schmerzhafte Gallenkolik überstanden.
»Hegst du irgendwelche Zweifel, mein Kind? Damit müssen wir uns alle hin und wieder befassen. Wir führen kein leichtes Leben, und es ist ein folgenschwerer Entschluss, den Schleier zu nehmen – und obwohl du schon so lange bei uns wohnst, wäre es verständlich, wenn du deine Entscheidung noch einmal überdenken würdest. Nur wenn du dir völlig im Klaren bist, wirst du inneren Frieden finden.« Nun bedauerte Mutter Gregoria, dass Gabriella die Jahre nicht besser genutzt hatte. Vielleicht zögerte die junge Frau plötzlich, eine Welt aufzugeben, die sie gar nicht kannte und die ihr in der Kindheit lediglich die Schattenseiten gezeigt hatte. »Wenn dich irgendetwas quält, solltest du mich einweihen.«
»Nein, Mutter Gregoria, alles ist in bester Ordnung.« Zum ersten Mal belog Gabriella die gütige Nonne und hasste sich selbst dafür. Die Situation wurde immer unerträglicher. Wie gern hätte sie der Oberin gestanden, sie würde Joe lieben und müsse das St. Matthew's verlassen ... Obwohl sie den Augenblick der Wahrheit fürchtete – er konnte nicht schlimmer sein als die beklemmenden Heimlichkeiten. »Solange du noch frei bist, solltest du dir das Leben da draußen ein letztes Mal ansehen. Such dir einen Job, Gabbie. Natürlich könntest du weiterhin hier wohnen, das weißt du.«
Gabriella überlegte, ob es richtig wäre, den Ausweg zu nutzen, der ihr geboten wurde. Aber sie würde ihre Freiheit missbrauchen, indem sie Joe im Apartment traf. »Nein«, protestierte sie
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