Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
geschluchzt hatte. Später erschien ein Arzt und sprach mit ihr. Da weinte sie wieder. Endlich verstand sie, was geschehen war – sie hatte Joes Baby verloren.
»Tut mir Leid«, beteuerte der Doktor. Dass sie eine Postulantin war, wusste er nicht. Da man sie aus dem St. Matthew's in die Klinik transportiert hatte, hielt er sie für eine unverheiratete junge Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft von den Eltern ins Kloster gebracht worden war. »Eines Tages werden Sie wieder ein Baby bekommen«, meinte er optimistisch.
Doch das wusste sie besser. Niemals hatte sie sich Kinder gewünscht, weil sie fürchtete, sie könnte sich zu einem Monstrum entwickeln, so wie ihre Mutter. An Joes Seite wäre vielleicht alles anders gewesen – die Chance auf ein neues Leben mit dem geliebten Mann und dem Kind ihrer Leidenschaft: ein Traum, in dem sie viel zu kurz geschwelgt hatte, den sie nicht verdiente. Und jetzt wurde sie in einem Albtraum gefangen gehalten, ohne Joe.
»Eine Zeit lang müssen Sie sehr vorsichtig sein«, mahnte der Arzt. »Sie haben viel Blut verloren. Beinahe hätten wir's nicht geschafft ... Wären Sie nur zwanzig Minuten später zu uns gekommen ...« Im Kreißsaal hatte ihr Herzschlag zwei Mal ausgesetzt. Noch nie hatte er eine so schlimme Fehlgeburt mit angesehen. »Ein paar Tage behalten wir Sie noch hier, um Sie zu beobachten. Außerdem brauchen Sie noch einige Infusionen. Danach dürfen Sie nach Hause gehen, wenn Sie mir versprechen, sich zu schonen. Keine Aufregung, keine Partys, kein Stadtbummel, keine Tanzerei«, fügte er lächelnd hinzu. Offenbar glaubte er, sie hätte ein ganz anderes Leben geführt als in Wirklichkeit. Sie war jung und schön. Deshalb vermutete er, sie könnte es kaum erwarten, ihren Freundeskreis wiederzusehen – und den Vater ihres Babys. Dann fragte er, ob er irgendjemanden verständigen sollte.
Unglücklich schaute sie zu ihm auf. »Mein Mann ist gestern gestorben«, flüsterte sie heiser und betraute Joe posthum mit der Rolle, die er in ihrem Leben gespielt hätte, wäre das Schicksal nicht so grausam gewesen.
»Oh, das tut mir schrecklich Leid«, versicherte der Doktor mitfühlend. Jetzt verstand er, warum er während der Operation den sonderbaren Eindruck gewonnen hatte, Gabriella würde die Ärzte und Schwestern bekämpfen, die sie am Leben erhalten wollten. Sie hatte sich den Tod gewünscht, um mit dem Vater ihres Kindes vereint zu werden, den sie ihren Mann nannte. Dass die beiden tatsächlich verheiratet gewesen waren, bezweifelte er. Eine schwangere Ehefrau wäre wohl kaum aus dem Kloster hierher gebracht worden. »Ruhen Sie sich jetzt aus«, schlug er vor, und sie schloss die Augen. Bevor er ging, beobachtete er sie noch ein paar Minuten lang. Das Leben lag noch vor ihr. Diese Tortur hatte sie überstanden. Eines Tages würde das Leid nur mehr eine schwache Erinnerung sein. Aber jetzt sah sie so blass und verzweifelt aus, als wäre ihre ganze Welt eingestürzt.
Genauso fühlte sie sich. Es gab nichts mehr, wofür sich das Leben lohnte. Ohne Joe wollte sie nicht weiterleben. Während sie in ihrem Krankenbett lag, dachte sie unablässig an ihn, an das Tagebuch, das sie für ihn geschrieben hatte, die gemeinsamen Stunden, die vertraulichen Gespräche, das leise Gelächter, die Spaziergänge im Park, die gestohlenen Augenblicke, die Leidenschaft im Apartment, das seinem Freund gehörte. Jedes einzelne Wort, jede Geste, jede Sekunde versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Dazwischen tauchte immer wieder Vater O'Brian in ihrer Fantasie auf, der sie an jenem Morgen über Joes Selbstmord informiert und prophezeit hatte, die Schuld an dieser Tragödie würde für alle Zeiten auf ihrem Gewissen lasten. Dass sie ihn zu dieser furchtbaren Tat getrieben hatte, bezweifelte sie nicht. Wäre sie doch rechtzeitig zu ihm geeilt ... Mit vereinten Kräften hätten sie ihr Schicksal gemeistert.
In unruhigen Träumen versuchte sie, ihn zurückzuholen. Aber er kam nicht zu ihr. Sie konnte ihn weder heraufbeschwören noch in lebendige Wirklichkeit verwandeln. Was mochte er vor seinem Tod empfunden haben? Welche Qualen hatten zu seinem Entschluss geführt? Dieser Gedanke erinnerte Gabriella an seine Mutter, die vor siebzehn Jahren die gleiche Entscheidung getroffen und einen verwaisten Sohn zurückgelassen hatte. Und jetzt blieb Gabriella allein zurück. Nicht einmal sein Baby hatte sie behalten. Für sie gab es nichts mehr auf dieser Welt, nur Kummer und Sorgen.
An diesem Abend
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