Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
betrat Mutter Gregoria das Krankenzimmer. Sie hatte im Lauf des Nachmittags zwei Mal mit dem Arzt telefoniert und wusste, wie knapp Gabriella dem Tod entronnen war. Der Doktor erwähnte, er habe von Gabriella erfahren, der Vater des Kindes sei am Vortag gestorben. Das würde ihm sehr Leid tun, betonte er. Bei Gabriellas Anblick empfand auch die Oberin tiefes Bedauern, was sie allerdings nicht aussprach. Leichenblass lag die junge Frau im Bett, mit bläulichen, fast durchscheinenden Lippen. Dass ihr Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte, sah man ihr an. Die Infusionen schienen keine Wirkung zu erzielen. Wie der Doktor der alten Nonne erklärt hatte, konnte es mehrere Monate dauern, bis sich Gabriella von dem starken Blutverlust erholen würde. Und genau das stellte Mutter Gregoria vor ernsthafte Probleme.
Eine Zeit lang saß sie neben dem Bett, sagte nicht viel, und Gabbie war zu schwach, um zu sprechen. Wann immer sie ein Wort hervorwürgte, brach sie in Tränen aus.
»Sei still, mein Kind«, bat die Oberin schließlich, ergriff ihre Hand und beobachtete erleichtert, wie das Mädchen einschlief.
An diesem Morgen hatte sich die Nachricht von Vater Connors' Tod wie ein Lauffeuer im Kloster verbreitet. Entsetzt und aufgeregt standen die Schwestern den ganzen Tag beisammen und tuschelten. Beim Dinner verkündete die Oberin, der junge Priester sei unerwartet gestorben. Eine Trauerfeier würde nicht stattfinden. Auf Wunsch des Erzbischofs sollte die Asche seiner sterblichen Überreste nach Ohio gebracht und im Grab seiner Familie bestattet werden.
Da sich auch Joes Mutter das Leben genommen hatte, lag sie nicht auf einem katholischen Friedhof. Unter diesen Umständen war Erzbischof Flaherty zur einzig möglichen Entscheidung gelangt. Nähere Erklärungen wurden nicht abgegeben. Aber da Vater Connors' Leiche verbrannt werden sollte, schöpften die Nonnen Verdacht. In der katholischen Kirche war die Einäscherung verboten und durfte nur mittels einer Sondererlaubnis stattfinden. Als Mutter Gregoria die Schwestern bat, des Verstorbenen in einem stummen Gebet zu gedenken und um sein Seelenheil zu bitten, begegnete sie zahlreichen misstrauischen Blicken. Nach der Mahlzeit sah sie Schwester Anne weinen.
Etwas später stand die sichtlich verzweifelte Postulantin auf der Schwelle von Mutter Gregorias Büro. Die Oberin bedeutete ihr einzutreten. »Stimmt was nicht?«
Wortlos sank Schwester Anne auf den Stuhl, der ihr angeboten wurde. Dann begann sie zu schluchzen. »Alles ist meine Schuld«, klagte sie. Irgendetwas Grauenhaftes musste geschehen sein, denn sie schien bittere Reue zu empfinden.
»Mit dir hat das sicher nichts zu tun«, entgegnete Mutter Gregoria in ruhigem Ton. »Vater Connors' Tod erschüttert uns alle. Aber du bist gewiss nicht dafür verantwortlich, Schwester Anne. Allem Anschein nach litt er an einer Krankheit, von der wir nichts wussten.«
»Aber ein Ministrant erzählte dem Lebensmittelhändler, Vater Connors habe sich erhängt«, schluchzte Schwester Anne. Diese Geschichte hatte sie aus dritter Hand vom Postboten erfahren, der kurz zuvor ins Lebensmittelgeschäft gegangen war, um eine Flasche Limonade zu kaufen.
»Glaub mir, das ist blanker Unsinn«, entgegnete die Oberin ärgerlich.
»Und wo ist Gabriella? Schwester Eugenia behauptet, sie sei in einem Krankenwagen weggebracht worden. Warum, weiß niemand. Wo ist sie?«
»Inzwischen geht es ihr wieder gut. Letzte Nacht litt sie an einer Blinddarmentzündung.«
An dieser Erklärung zweifelte Schwester Anne. Sie hatte die beiden Priester mit ernsten Mienen aus dem Büro der Oberin kommen sehen. In der kleinen Gemeinde von St. Matthew's geschah nicht viel, was den Bewohnerinnen entging. Selbst hier, in den Armen des Allmächtigen, verbreiteten sich Klatschgeschichten und Gerüchte wie Lauffeuer. An diesem Tag tuschelten die Schwestern eifriger denn je, und das missfiel der Oberin. Irgendwie musste sie die junge Postulantin beruhigen, die von unsinnigen Schuldgefühlen geplagt wurde.
»Ich – ich schrieb Ihnen einen anonymen Brief«, gestand Schwester Anne stockend. »Über die beiden – weil ich dachte, Gabriella würde mit Vater Connors flirten ... O Mutter Gregoria, ich war eifersüchtig – und ich missgönnte ihr, was ich verloren hatte, bevor ich hierher kam.«
»Also hast du ein schweres Unrecht begangen, mein Kind«, seufzte die alte Nonne. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Brief und den Kummer, den er ihr bereitet hatte. »Aber
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