Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
erreichten sie die Haupthalle und den Ausgang. Die ältere Nonne, die Besucher herein- und hinausließ, öffnete sehr behutsam die Tür. Ein paar stille Sekunden standen die drei beisammen. Schließlich nickte die ältere Schwester, und Gabriella überquerte die Schwelle. Wie krass sich der Moment von jenem unterschied, an dem sie davongeeilt war, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen – und Joe zu treffen ... Diesmal trat sie ins Dunkel – obwohl die Sonne hell vom Himmel herabschien. Ein letztes Mal drehte sie sich um und schaute die schweigenden Nonnen an, bis die Tür ins Schloss fiel – zum Zeichen eines unwiderruflichen Abschieds.
15
Wie lange sie vor dem Kloster stand und die Tür anstarrte, wusste sie nicht. Wohin sollte sie gehen? Was sollte sie tun? Sie konnte nur daran denken, wie viel sie in den letzten vier Tagen verloren hatte – den geliebten Mann, ein Baby, ihr Leben. Vor lauter Verzweiflung wurde ihr fast schwindlig.
Den Koffer in der Hand, ging sie langsam davon. Sie musste ein Zimmer suchen, einen Job. Wie machte man das? Während sie einem Bus nachschaute, erinnerte sie sich plötzlich an Studentinnen am Columbia College, die in Pensionen oder kleinen Hotels gewohnt hatten. Aber in welchem Stadtteil? Die Stirn gerunzelt, versuchte sie sich zu entsinnen. An der Upper West Side? Ja, vermutlich ... Darauf hatte sie nie geachtet.
Sie stieg in einen Bus und fuhr in den Norden der Stadt, ohne genau zu wissen, wohin. Einen verrückten Augenblick lang überlegte sie, ob sie ihren Vater in Boston aufspüren sollte. Warum nicht? Nachdem sie an der Ecke Eighty-sixth und Third aus dem Bus gestiegen war, betrat sie eine Telefonzelle und rief die Bostoner Auskunft an. Ein John Harrison war nicht registriert. Wo er arbeitete, ob er überhaupt noch lebte, geschweige denn, ob er sie sehen wollte, ahnte sie nicht. Vor dreizehn Jahren hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Und jetzt, mit zweiundzwanzig, an der Schwelle ihres neuen Lebens, fühlte sie sich wie ein unmündiges Kind. Als sie die Zelle verließ, entdeckte sie ein Café und wurde von neuen Schwindelgefühlen erfasst. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Doch hungrig war sie nicht.
Passanten eilten vorbei, Mütter schoben Kinderwagen den Gehsteig entlang, und jeder steuerte ein bestimmtes Ziel an. Nur Gabriella nicht. Sie kam sich vor wie ein Stein in einem Fluss, inmitten rauschender Wellen, die alles davontrugen. Nach einer Weile ging sie ins Café, um eine Tasse Tee zu trinken. Blicklos starrte sie in die braune Flüssigkeit und dachte an Mutter Gregorias Worte. Die Oberin hielt sie für stark. Das hatten auch ihr Vater und Joe behauptet. Inzwischen glich dieses Lob einer Totenglocke. Wer es aussprach,
wünschte
nur, sie wäre stark, damit sie sich allein zurechtfand.
Müde trank sie die Tasse leer, dann ergriff sie eine Zeitung, die irgendjemand liegen gelassen hatte, und schlug den Anzeigenteil auf. Sie musste eine Unterkunft finden, also studierte sie die Liste kleiner Hotels und Pensionen. Nicht weit entfernt, an der East Eighty-eighth Street, in der Nähe des Flusses, lag eine Pension. Gabriella kannte diese Gegend nicht. Aber irgendwo musste sie wohnen – falls sie sich überhaupt ein Zimmer leisten konnte.
Sie bezahlte den Tee und kehrte in den Sonnenschein zurück. Innerlich fühlte sie sich wie tot. Das heiße Getränk hatte sie nur ein bisschen erwärmt. Meistens fror sie, nachdem sie so viel Blut verloren hatte. Sie war leichenblass, und ihr ganzer Körper schmerzte, während sie an langen Häuserblocks vorbei zum East River ging.
Was würde ein Zimmer kosten? Von ihren fünfhundert Dollar würde sie nicht allzu lange leben können – zumindest nahm sie das an. Sie hatte noch nie für ihre eigenen Bedürfnisse sorgen müssen und wusste nicht, was man für Lebensmittel, einen Restaurantbesuch, Kleider oder ein Hotelzimmer ausgeben musste. Aber sie war dankbar für das Geld, das Mutter Gregoria ihr gegeben hatte.
Zunächst lief sie an der kleinen Pension vorbei, weil sie das Schild übersehen hatte. Es hing hinter einem staubigen Fenster eines alten Sandsteinhauses mit abbröckelnder Fassade. ZIMMER ZU VERMIETEN, lautete die Aufschrift. Obwohl das Gebäude nicht besonders einladend wirkte, betrat sie die schäbige, aber saubere Halle, wo es nach Küchendünsten roch.
»Ja?« Eine Frau mit ausgeprägtem Akzent trat aus einer Tür, als sie Gabriellas Schritte hörte. Durch das Wohnzimmerfenster hatte sie das
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