Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
nach dem starken Blutverlust unbedingt verhindern.
»Sind Sie okay?« Mrs Boslicki musterte sie besorgt. Jetzt war das Mädchen noch bleicher, fast grün im Gesicht, und schien sich nur mühsam auf den Beinen zu halten.
»Ich war krank – manchmal fühle ich mich immer noch ein bisschen schwach«, erwiderte Gabriella.
Verständnisvoll nickte die alte Frau im geblümten Hauskittel. Sie trug Pantoffeln und hatte ihr Haar zu einem adretten Knoten hochgesteckt. In dieser Aufmachung glich sie einer netten, freundlichen Großmutter. »Heutzutage muss man sich vor diesen Grippeviren hüten. Ehe man weiß, wie einem geschieht, holt man sich eine Lungenentzündung. Haben Sie gehustet?« Von tuberkulösen Hausgästen hielt sie ebenso wenig wie von dreisten jungen Leuten.
»Nein, jetzt bin ich wieder gesund«, beteuerte Gabriella.
Mrs Boslicki öffnete die Tür eines winzigen, tristen Zimmers, das kaum genug Platz bot für ein schmales Bett, einen Stuhl mit gerader Lehne, eine Kommode, auf der eine gehäkelte Decke lag, und einen Schrank. Jahrelang hatte sie den Raum einer alten Warschauerin vermietet, die im letzten Sommer gestorben war, und seither keinen neuen Bewohner gefunden. Für dieses Loch mit den schadhaften Jalousien, den leicht zerschlissenen Vorhängen und dem fadenscheinigen Teppich waren dreihundert Dollar ein stolzer Preis. Das wusste sogar Mrs Boslicki.
Forschend betrachtete sie das Gesicht der jungen Frau. Obwohl Gabriella an spartanische Klosterzellen gewöhnt war, erschien ihr dieses Zimmer furchtbar deprimierend.
»Ich geb's Ihnen für zweihundertfünfzig«, verkündete die Pensionswirtin, sichtlich gerührt über ihre eigene Großzügigkeit. Dass sie das Zimmer endlich vermieten musste, weil sie dringend Geld brauchte, gestand sie sich nicht ein.
»Gut, ich nehm's«, entgegnete Gabriella ohne Zögern. Sie wusste nicht, wo sie sich sonst einquartieren sollte. Mit der Zeit würde ihr die trostlose Atmosphäre sicher nichts mehr ausmachen. Außerdem war sie vom Treppensteigen so erschöpft, dass sie sich einfach nur für eine Weile hinlegen wollte. Aber der Gedanke, in dieser beklemmenden Umgebung zu wohnen, trieb ihr beinahe Tränen in die Augen, als sie der Pensionswirtin die Hälfte der Miete übergab.
»Ich bringe Ihnen Bettzeug und Handtücher. Um die Wäsche müssen Sie sich selber kümmern. Weiter unten an der Straße finden Sie einen Waschsalon und viele Restaurants. Einige meiner Gäste essen im Café an der Ecke.« An dieses Lokal erinnerte sich Gabriella. Sie war daran vorbeigegangen, und sie hoffte, es wäre nicht zu teuer. Jetzt besaß sie nur mehr etwa dreihundertsiebzig Dollar. Aber für diesen Monat hatte sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Mrs Boslicki führte sie durch den Flur ins kleine Bad. Hinter einem rosa Plastikvorhang stand eine Wanne mit einer Dusche; ein winziges Waschbecken, eine Toilette und ein Spiegel, der an einem Nagel hing, vervollständigten die Einrichtung. Nicht luxuriös, aber funktionell. »Einmal pro Woche mache ich hier sauber«, erklärte die alte Frau. »An den übrigen Tagen müssen Sie selber für Ordnung sorgen. Teilen Sie sich die Arbeit mit den beiden anderen Frauen. Das Wohnzimmer im Erdgeschoss können Sie jederzeit benutzen. Da haben wir einen Fernseher. Und ein Klavier. Spielen Sie?«
»Nein, tut mir Leid.« Gabriellas Mutter hatte Klavier gespielt, aber weder Zeit noch Mühe verschwendet, ihrer Tochter Unterricht zu geben. Im Kloster hatte Gabriella dann im Haushalt oder im Garten gearbeitet, statt zu musizieren. In dieser Hinsicht war sie völlig unbegabt, und die Schwestern hatten sie wegen ihrer Singstimme gehänselt. Sie sang gern und laut und ziemlich falsch.
»Sehen Sie zu, dass Sie bald einen Job kriegen. Dann können Sie hier bleiben. Sie sind ein nettes Mädchen, und ich mag Sie.« Inzwischen war Mrs Boslicki zu der Überzeugung gelangt, diese höfliche junge Frau wäre genau die richtige Mieterin für die schäbige Kammer. Sicher würde es keine Schwierigkeiten mit ihr geben. »Passen Sie gut auf sich auf, Sie sehen ziemlich krank aus. Vor allem müssen Sie anständig essen.« Bevor sie die Stufen hinabstieg, das Geld in der Hand, erbot sich Gabriella, das Bettzeug und die Handtücher selber zu holen und ihr die drei Treppenfluchten zu ersparen.
Dann setzte sie sich auf den unbequemen Stuhl und überlegte, wie sie das Zimmer etwas gemütlicher gestalten könnte. Wenn sie Geld verdiente, wollte sie ein paar Sachen kaufen. Eine
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