Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
selbst.«
»Ich hasse mich schon jetzt«, weinte Gabriella. Erfolglos versuchte sie, die Tränen zu unterdrücken. Sie hatte den geliebten Mann in den Tod getrieben, sein Baby verloren – und jetzt sollte ihr darüber hinaus alles andere genommen werden, was sie liebte. Bei diesem Gedanken wurde sie von kaltem Grauen erfasst und hoffte inbrünstig, das Entsetzen würde sie umbringen. Was ihr zu allem anderen am schlimmsten erschien: Dieser Wunsch würde sich nicht erfüllen.
»Nun musst du gehen, Gabriella«, sagte Mutter Gregoria in ruhigem Ton und stand auf. Todtraurig musterte sie die zitternde junge Frau, die sich ebenfalls erhob, und übergab ihr ein Kuvert mit fünfhundert Dollar – zusammen mit dem Tagebuch. Diesen schmalen Band hatte eine Novizin unter Gabriellas Kissen gefunden, sofort erraten, was er enthielt, und ihn der Oberin anvertraut, ohne darin zu lesen.
Mit bebenden Händen nahm Gabriella das Tagebuch entgegen. Minutenlang standen sie sich schweigend gegenüber, dann streckte Gabriella ihre Arme aus, und die Oberin zog sie an sich – so wie an jenem Tag, als Mrs Harrison ihre Tochter hierher gebracht hatte.
»Ich werde dich ewig lieben«, versicherte die Oberin dem Kind, das Gabriella gewesen war, und der Frau, die sie sein würde, wenn sie ihr schweres Schicksal gemeistert hatte. Dass ihr dies gelingen würde, bezweifelte Mutter Gregoria keine Sekunde. Doch sie wusste, welch ein harter, steiniger Weg vor dem Mädchen lag.
»Wie kann ich Sie verlassen – wenn ich Sie so sehr liebe ...« Unglücklich klammerte sich Gabriella an die Oberin und spürte den rauen Stoff der schwarzen Tracht an ihrer Wange. Ihre eigene musste sie bald ablegen.
»In meinen Gedanken werde ich stets bei dir sein und für dich beten.« Ohne ein weiteres Wort führte Mutter Gregoria die schluchzende Gabriella aus dem Büro und bedeutete der Nonne, die im Flur wartete, mit ihr die Garderobe aufzusuchen. Dort sollte sie die Postulatstracht mit einem der unscheinbaren Kleider vertauschen, die irgendjemand im Kloster zurückgelassen hatte, und das andere in einem schäbigen alten Koffer verstauen. Was sie sonst noch brauchte, musste sie mit dem Geld kaufen, das die Oberin ihr gegeben hatte.
Ein letztes Mal wandte sich Gabriella zu der alten Nonne. Unaufhaltsam rannen Tränen über ihr Gesicht. »Ich liebe Sie.«
»Gott mit dir.« Die Oberin warf keinen einzigen Blick über die Schulter, als sie in ihr Büro zurückkehrte, und schloss lautlos die Tür.
Ungläubig betrachtete Gabriella das dunkle Holz der geschlossenen Tür und gewann den Eindruck, dass damit gleichzeitig ein Herz für immer für sie verloren war. Auf der anderen Seite der Tür vergrub Mutter Gregoria ihr Gesicht in den Händen und schluchzte gequält.
Doch das konnte Gabriella nicht wissen. Sie folgte der Nonne, die nach wie vor an das Schweigegelübde gebunden war, in die Garderobe. Wortlos zeigte die junge Schwester auf die beiden Kleider. Eins war aus dunkelblau geblümtem Polyester und um zwei Nummern zu groß für Gabriella, insbesondere nach der letzten Woche im Krankenhaus, und das zweite aus einem glänzenden schwarzen Stoff, mit Flecken an der Vorderseite, die einer mehrmaligen gründlichen Wäsche standgehalten hatten. Aber sie glaubte, dieses Kleid würde ihr besser passen, und die düstere Farbe entsprach genau ihrer Stimmung. In tiefer Trauer um Joe würde sie künftig einfach nur ein schwarzes Kleid mit einem anderen vertauschen. Während sie die Nonnenhaube abnahm, entsann sie sich, wie oft sie sich davon befreit hatte – Joe zuliebe, im Auto, auf Spaziergängen im Park, im Apartment. Dafür musste sie jetzt bitter büßen. Was diese Nonnenhaube repräsentierte, hatte sie verloren.
Als sie vor der Nonne stand, die ihr beim Auszug helfen sollte, trafen sich ihre Blicke. Schweigend umarmten sie sich, Tränen rannen über ihre Wangen. Für beide war es ein trauriger Tag, und die junge Schwester, die hier bleiben durfte, würde niemandem verraten, welches Leid sie in Gabriellas Augen gelesen hatte. Die ehemalige Postulantin hatte ihr eine Lektion erteilt. Wenn man gegen die Ordensregeln verstieß, wurde man in die Welt hinausgeschickt – mutterseelenallein.
Verzweifelt packte Gabriella das dunkelblaue, geblümte Kleid, das Tagebuch und den Umschlag mit dem Geld in den alten Pappkoffer. Dann verließ sie die Garderobe, hinter der Frau, die zwölf Jahre lang ihre Schwester gewesen war, die sie nie wiedersehen würde.
Viel zu schnell
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