Der lange Weg zur Freiheit
Staat habe uns keine Alternative zur Gewalt gelassen. Ich erklärte, es sei falsch und unmoralisch, unsere Leute den bewaffneten Angriffen des Staates auszusetzen, ohne ihnen irgendeine Art von Alternative anzubieten. Ich erwähnte abermals, die Menschen hätten auf eigene Faust zu den Waffen gegriffen. Gewalt würde ihren Anfang nehmen, ob wir nun die Initiative ergriffen oder nicht. Wäre es da nicht besser, wenn wir selbst diese Gewalt lenkten, gemäß den Prinzipien, wonach wir Leben retteten, indem wir die Symbole der Unterdrückung angriffen und nicht Menschen? Übernähmen wir jetzt nicht die Führung, erklärte ich, würden wir bald zu Nachzüglern und Anhängern einer Bewegung werden, die wir nicht mehr kontrollieren.
Anfangs war der Häuptling für meine Argumente nicht zugänglich. Für ihn war Gewaltlosigkeit nicht nur eine Taktik. Aber wir bearbeiteten ihn die ganze Nacht; und ich glaube, daß er sich im Innersten darüber im klaren war, daß wir recht hatten. Schließlich räumte er ein, daß eine militärische Kampagne unvermeidlich sei. Als später jemand die Vermutung äußerte, der Häuptling sei womöglich auf einen solchen Kurs gar nicht vorbereitet gewesen, erwiderte er: »Falls mich jemand für einen Pazifisten hält, so mag er nur versuchen, mir meine Hühner wegzunehmen, und er wird dann schon sehen, wie sehr er sich irrt!«
Die Nationale Exekutive billigte formal den vorläufigen Beschluß des Arbeitskomitees. Der Häuptling und andere schlugen vor, wir sollten die neue Resolution so behandeln, als habe der ANC sie nicht erörtert. Er wollte nicht die Legalität unserer nicht gebannten Verbündeten gefährden. Nach seiner Idee sollte eine militärische Bewegung ein separates, unabhängiges Organ sein, mit dem ANC zwar verbunden und unter der Gesamtkontrolle des ANC, jedoch fundamental autonom. Es würde zwei getrennte Fronten des Kampfes geben. Ohne Zögern akzeptierten wir den Vorschlag des Häuptlings. Er und andere warnten davor, diese neue Phase als Vorwand zu benutzen, die wesentlichen Aufgaben der Organisation und die traditionellen Kampfmethoden zu vernachlässigen. Auch das wäre selbstzerstörerisch, denn der bewaffnete Kampf würde, jedenfalls zu Anfang, nicht das Kernstück der Bewegung sein.
Für die folgende Nacht war in Durban ein Treffen der vereinigten Exekutiven angesetzt. Teilnehmen würden auch der Indian Congress, der Colored People’s Congress, der South African Congress of Trade Unions und der Congress of Democrats. Obwohl diese anderen Gruppen gewöhnlich ANC-Beschlüsse akzeptierten, wußte ich doch, daß einige meiner indischen Kollegen sich dem Schritt zur Gewalt energisch widersetzen würden.
Das Treffen nahm einen unglücklichen Verlauf. Häuptling Luthuli, der den Vorsitz hatte, verkündete, zwar habe der ANC einen Beschluß zur Gewalt gebilligt, jedoch »es handelt sich um eine Angelegenheit von solchem Gewicht, daß ich mir wünsche, meine Kollegen würden heute abend das Thema erneut bedenken«. Offensichtlich war der Häuptling mit unserem neuen Kurs nicht ganz einverstanden.
Wir begannen unsere Sitzung um 20 Uhr, und sie verlief tumultös. Ich brachte die gleichen Argumente vor wie bisher, und viele Teilnehmer legten Zurückhaltung an den Tag. Yusuf Cachalia und Dr. Naicker beschworen uns, diesen Kurs nicht einzuschlagen, und prophezeiten, der Staat werde die ganze Befreiungsbewegung hinmetzeln. J. N. Singh, ein versierter Debattenredner, sprach in jener Nacht Worte aus, die noch immer durch meinen Kopf gehen: »Nicht die Gewaltlosigkeit hat uns gegenüber versagt«, erklärte er, »wir haben der Gewaltlosigkeit gegenüber versagt.« Ich entgegnete, Gewaltlosigkeit habe uns gegenüber sehr wohl versagt, denn sie habe in keiner Weise die Gewaltanwendung des Staates eingedämmt oder bei unseren Unterdrückern einen Sinneswandel bewirkt.
Wir debattierten die ganze Nacht hindurch, und in den frühen Morgenstunden hatte ich das Gefühl, daß wir Fortschritte machten. Viele der indischen Führer sprachen jetzt in besorgtem Ton über das Ende der Gewaltlosigkeit. Aber dann, urplötzlich, platzte M. D. Naido, Mitglied des South African Indian Congress, heraus und erklärte seinen indischen Kollegen: »Ach, ihr habt ja nur Angst, ins Gefängnis zu gehen, das ist alles.« Seine Bemerkung löste einen Tumult aus. Bezweifelt man die Integrität eines Menschen, so muß man mit Ärger rechnen. Die gesamte Debatte begann praktisch noch einmal von vorn. Doch gegen
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