Der lange Weg zur Freiheit
und wollte gerade anfangen zu prahlen, als Goldreichs Sohn Paul, damals etwa fünf Jahre alt, mich mit Tränen in den Augen ansah und sagte: »David, warum hast du diesen Vogel getötet? Seine Mutter wird traurig sein.« Meine Stimmung ging sofort von Stolz zur Scham über, und ich hatte das Gefühl, daß der kleine Junge weit mehr Menschlichkeit besaß als ich. Es war eine eigentümliche Empfindung für einen Mann, der Führer einer im Entstehen begriffenen Guerilla-Armee war.
Bei der Planung von Richtung und Form der MK zogen wir vier Typen von Gewaltaktionen in Betracht: Sabotage, Guerillakrieg, Terrorismus und offene Revolution. Für eine kleine, gerade flügge werdende Armee war die offene Revolution undenkbar. Terrorismus warf unvermeidlich ein schlechtes Licht auf jene, die sich seiner bedienten, und unterminierte jede öffentliche Unterstützung, die anders vielleicht zu gewinnen wäre. Guerillakrieg war eine Möglichkeit, aber da der ANC stets gegen Gewaltanwendung gewesen war, schien es am sinnvollsten, jene Form von Gewalt einzusetzen, die für Menschen am harmlosesten war: Sabotage.
Da Sabotage nicht den Verlust von Menschenleben nach sich zog, war mit ihr die größte Hoffnung auf Aussöhnung der Rassen späterhin verbunden. Wir wollten keine Blutfehde zwischen Weiß und Schwarz auslösen. Noch 50 Jahre nach dem Englisch-Burischen Krieg stand zwischen Engländern und Afrikandern bittere Feindseligkeit. Wie würde es um die Rassenbeziehungen zwischen Weiß und Schwarz stehen, wenn wir einen Bürgerkrieg provozierten? Sabotage hatte den zusätzlichen Vorteil, die wenigsten Menschenleben zu fordern.
Unsere Strategie bestand darin, selektiv Anschläge zu verüben gegen militärische Einrichtungen, Kraftwerke, Telefonleitungen und Transportverbindungen – alles Ziele, die nicht nur die militärische Effektivität des Staates beeinträchtigen, sondern auch die Anhänger der National Party verschrecken, ausländisches Kapital abschrecken und die Ökonomie schwächen würden. Dies, so hofften wir, würde die Regierung an den Verhandlungstisch zwingen. Die Mitglieder des MK wurden streng angewiesen, Verluste von Menschenleben unter allen Umständen zu vermeiden. Sollte Sabotage nicht die gewünschten Resultate erbringen, so waren wir bereit, zur nächsten Phase überzugehen: Guerillakrieg und Terrorismus.
Die Struktur des MK spiegelte die Familienorganisation wider. An der Spitze war das National High Command; darunter befanden sich die Regional Commands jeder einzelnen Provinz, und unten waren die lokalen Kommandos und Zellen. Regionale Kommandos wurden überall im Land eingerichtet, und ein Gebiet wie das östliche Kap hatte über 50 Zellen. Das High Command entschied über Taktiken und allgemeine Ziele und trug die Verantwortung für Ausbildung und Finanzierung. Innerhalb des vom High Command festgelegten Rahmens besaßen die Regionalkommandos die Autorität, ausgewählte lokale Ziele anzugreifen. Allen MK-Mitgliedern war es verboten, bewaffnet an einer Operation teilzunehmen; sie sollten in keiner Weise Menschenleben gefährden.
Ein Problem, auf das wir früh stießen, war die Frage der geteilten Loyalitäten zwischen MK und ANC. Die meisten unserer Rekruten waren ANC-Mitglieder, die in Ortsgruppen aktiv waren, doch es stellte sich heraus, daß sie, sobald sie für den MK tätig waren, ihre früheren Aktivitäten für die Ortsgruppen einstellten. Der Sekretär der Ortsgruppe entdeckte, daß bestimmte Männer nicht länger an Meetings teilnahmen. Er sprach dann vielleicht einen an und fragte: »Mann, warum bist du gestern abend nicht beim Meeting gewesen?« Worauf er die Antwort erhielt: »Na ja, ich war bei einem anderen Meeting.«
»Bei was für einem Meeting denn?« fragte der Sekretär.
»Oh, das kann ich nicht sagen.«
»Du kannst es mir, deinem Sekretär, nicht sagen?« Aber der Sekretär würde schon bald die zweite Loyalität des Mitglieds herausfinden. Nach einigen anfänglichen Mißverständnissen beschlossen wir, daß bei einer Rekrutierung aus einer Ortsgruppe der Sekretär informiert werden mußte, eines seiner Mitglieder sei fortan beim MK.
Als ich an einem warmen Dezembernachmittag in der Küche auf der Liliesleaf Farm saß, hörte ich über das Radio die Meldung, Häuptling Luthuli sei in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen worden. Die Regierung hatte ihm ein zehntägiges Visum erteilt, damit er das Land verlassen und den Preis entgegennehmen konnte. Ich war – wie wir alle
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