Der lange Weg zur Freiheit
Adresse war eher ein Refugium als ein Unterschlupf: Liliesleaf Farm in Rivonia, einem bukolischen nördlichen Vorort von Johannesburg. Seinerzeit bestand Rivonia hauptsächlich aus Farmen und kleinen Anwesen. Das Farmhaus und das Grundstück waren von unserer Bewegung gekauft worden, um Mitgliedern im Untergrund eine sichere Zuflucht bieten zu können. Es war ein altes, reparaturbedürftiges Haus, und niemand wohnte dort.
Ich zog als angeblicher Hausdiener oder Verwalter ein, der sich um den Besitz kümmern würde bis zur Ankunft meines Herrn. Ich nannte mich David Motsamayi, mit dem Namen eines meiner früheren Klienten. Auf der Farm trug ich einfache blaue Overalls, die Uniform des schwarzen Bediensteten. Tagsüber ging es auf dem Grundstück recht geschäftig zu. Arbeiter, Zimmerleute und Anstreicher waren damit beschäftigt, das Haupthaus instandzusetzen und die Außengebäude zu erweitern. Wir wollten eine Anzahl kleinerer Zimmer anbauen lassen, damit hier mehr Leute leben konnten. Die Arbeiter waren alle Afrikaner aus der Township Alexandra, und sie riefen mich entweder »Kellner« oder »Boy« (sie gaben sich nie die Mühe, mich nach meinem Namen zu fragen). Ich bereitete ihnen das Frühstück sowie am Vormittag und am Nachmittag Tee. Sie schickten mich auch zu Botengängen auf der Farm herum oder befahlen mir, den Boden zu fegen oder Abfall aufzusammeln.
Eines Nachmittags informierte ich sie, ich hätte in der Küche Tee für sie zubereitet. Sie kamen herein, und ich reichte ein Tablett mit Tassen, Tee, Milch und Zucker herum. Jeder nahm eine Tasse und bediente sich selbst. Während ich das Tablett herumtrug, trat ich auch an einen Burschen heran, der gerade dabei war, eine Geschichte zu erzählen. Er nahm sich eine Teetasse, doch er konzentrierte sich mehr auf seine Geschichte als auf mich, und er hielt, während er sprach, einfach seinen Teelöffel in die Luft, doch weniger, um sich Zucker zu nehmen, sondern um damit zu gestikulieren. Ich stand da, mehrere Minuten lang, wie mir schien, und begann mich schließlich leicht verärgert zu entfernen. Da erst bemerkte er mich und sagte scharf: »Kellner, komm her, ich habe nicht gesagt, daß du gehen darfst.«
Viele Leute haben ein idealistisches Bild vom egalitären Charakter der afrikanischen Gesellschaft gemalt, und wenn ich diesem Porträt im großen und ganzen auch zustimme, so ist es doch eine Tatsache, daß Afrikaner einander keineswegs immer gleich behandeln. Die Industrialisierung hat dazu beigetragen, die urbanen Afrikaner mit Status-Vorstellungen wie in der weißen Gesellschaft üblich vertraut zu machen. Für solche Leute war ich minderwertig, ein Diener, ein ungelernter Arbeiter und deshalb mit Verachtung zu behandeln. Ich spielte die Rolle so gut, daß keiner von ihnen jemals argwöhnte, ich könne jemand anderes sein, als ich zu sein schien.
Jeden Abend bei Sonnenuntergang kehrten die Arbeiter zu ihren Wohnungen zurück, und ich war bis zum nächsten Morgen allein. Ich genoß diese Stunden der Stille, doch an den meisten Abenden verließ ich das Grundstück, um Zusammenkünften beizuwohnen, und kehrte erst mitten in der Nacht zurück. Oft war mir nicht wohl zumute, wenn ich zu solchen Zeiten an einen Ort zurückkehrte, den ich nicht gut kannte und an dem ich illegal unter falschem Namen lebte. Ich erinnere mich, wie ich eines Nachts erschrak, als ich zu sehen glaubte, daß jemand im Gebüsch lauerte; ich sah nach und fand nichts. Ein Freiheitskämpfer im Untergrund hat einen sehr leichten Schlaf.
Nach einigen Wochen gesellte sich auf der Farm Raymond Mhlaba zu mir, der von Port Elizabeth herbeigereist war. Ray war ein überzeugter Gewerkschafter, Mitglied der Cape Exekutive und der Kommunistischen Partei, und er war der erste ANC-Führer gewesen, der bei der Mißachtungskampagne verhaftet worden war. Er war vom ANC als einer der ersten Rekruten für Umkhonto we Sizwe ausgewählt worden. Er wollte sich auf der Farm zusammen mit drei anderen auf seine militärische Ausbildung in der Volksrepublik China vorbereiten; wir hatten den Kontakt erneuert, den Walter 1952 geknüpft hatte. Ray blieb zwei Wochen und gab mir ein klareres Bild von den Problemen, die der ANC im östlichen Kap hatte. Ich bediente mich auch seiner Hilfe bei der Abfassung der MK-Satzung. Es kamen noch Joe Slovo und Rusty Bernstein hinzu, die beide den Entwurf mitverfaßten.
Nach Raymonds Abreise stieß für kurze Zeit Michael Harmel zu mir, eine Schlüsselfigur der
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