Der lange Weg zur Freiheit
nicht geschehen. Wir waren alle vorbereitet, nicht weil wir mutig, sondern weil wir realistisch waren. Ich dachte an die Zeile aus Shakespeare: Sei unbedingt für den Tod; denn entweder wird der Tod oder das Leben süßer sein.
Am Freitag, 12. Juni 1964, betraten wir das Gerichtsgebäude zum letztenmal. Fast ein Jahr war seit den verhängnisvollen Verhaftungen auf Rivonia verstrichen. Die Sicherheitsvorkehrungen waren außerordentlich streng. Unser Konvoi raste mit heulenden Sirenen durch die Straßen. Alle Straßen zum Gerichtsgebäude waren für den normalen Verkehr gesperrt. Die Polizei prüfte die Personalien jeder Person, die sich dem Justizpalast nähern wollte. An den lokalen Bus- und Eisenbahnstationen waren Kontrollposten eingerichtet. Trotz aller Einschüchterungen hatten sich vor dem Gerichtsgebäude rund 2000 Menschen versammelt, die Fahnen und Plakate schwenkten, auf denen zu lesen war: »Wir stehen zu unseren Führern.« Im Gericht war die Zuschauertribüne voll besetzt, und Stehplätze gab es nur für die lokale und die ausländische Presse.
Ich winkte Winnie und meiner Mutter zu. Es war gut, sie dort zu sehen; meine Mutter war den weiten Weg von der Transkei herbeigereist. Es muß ein recht merkwürdiges Gefühl sein, einen Gerichtssaal zu betreten, um mitzuerleben, ob der eigene Sohn zum Tode verurteilt wird oder nicht. Obwohl ich vermute, daß meine Mutter nicht alles verstand, was sich um sie herum abspielte, war sie in ihrer Unterstützung niemals schwankend. Winnie war ebenfalls nicht zu erschüttern, und ihre Stärke gab mir Kraft.
Der Urkundsbeamte rief den Fall auf: »Der Staat gegen Mandela und andere.« Bevor das Urteil verkündet wurde, wurden zwei Plädoyers zugunsten einer Strafmilderung gehalten. Das eine hielt Harold Hanson, das andere der Autor Alan Paton, der auch nationaler Präsident der Liberal Party war. Hanson erklärte eloquent, man könne die Mißstände einer Nation nicht verdrängen, das Volk werde immer eine Möglichkeit finden, die Mißstände auszusprechen. »Es waren nicht ihre Ziele, die kriminell waren«, erklärte Hanson, »sondern nur die Mittel, deren sie sich bedienten.« Hanson erklärte, der Richter werde gut daran tun, sich zu erinnern, wie sein eigenes Volk, die Afrikander, für ihre Freiheit mit Gewalt gekämpft hätten.
Obwohl Paton sich nicht für den Einsatz von Gewalt aussprach, erklärte er doch, die Angeklagten hätten nur zwei Alternativen gehabt: »ihren Kopf zu beugen und sich zu unterwerfen oder gewaltsamen Widerstand zu leisten«. Die Angeklagten sollten begnadigt werden, sonst sähe die Zukunft Südafrikas düster aus.
Aber de Wet schien weder dem einen noch dem anderen Redner zuzuhören. Weder blickte er auf noch machte er sich Notizen, während sie sprachen. Er schien in seine eigenen Gedanken vertieft. Offensichtlich hatte er bereits entschieden; er wartete lediglich auf den Augenblick, seine Entscheidung zu verkünden.
Er nickte uns zu, wir sollten aufstehen. Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen, doch er schaute nicht einmal in unsere Richtung. Seine Augen waren auf die mittlere Entfernung konzentriert. Sein Gesicht war sehr blaß, und er atmete schwer. Wir sahen einander an und schienen zu wissen: Es würde das Todesurteil sein, denn warum sonst war dieser gewöhnlich ruhige Mann so nervös? Und dann begann er zu sprechen.
»Ich habe im Laufe dieses Falles viel über die Klagen der nichtweißen Bevölkerung gehört. Die Angeklagten haben mir erzählt und ihre Anwälte haben mir erzählt, daß die Angeklagten, die alle Führer der nichtweißen Bevölkerung waren, ausschließlich angetrieben worden sind durch den Wunsch, die Beschwernisse zu mildern. Ich bin durchaus nicht davon überzeugt, daß die Motive der Angeklagten so altruistisch waren, wie sie dem Gericht glauben machen möchten. Menschen, die eine Revolution organisieren, übernehmen für gewöhnlich die Regierung, und persönlicher Ehrgeiz kann als Motiv nicht ausgeschlossen werden.«
Er hielt einen Augenblick inne, wie um Atem zu schöpfen. De Wets Stimme, schon zuvor gedämpft, war jetzt kaum noch zu hören.
»Die Aufgabe dieses Gerichtes wie die des Gerichts in jedem anderen Land besteht darin, Gesetz und Ordnung Geltung zu verschaffen und die Gesetze des Staates durchzusetzen, in dem es tätig ist. Das Verbrechen, dessen die Angeklagten für schuldig befunden worden sind, das heißt das Hauptverbrechen, das Verbrechen Verschwörung, ist im Wesen eines des
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