Der lange Weg zur Freiheit
das Auto war in einen Fluß gestürzt. Molly war ertrunken.
Die Nachricht verstörte uns zutiefst. Molly war eine wunderbare Frau gewesen, großzügig und selbstlos, ohne alle Vorurteile. Sie hatte Bram auf unglaublich vielfältige Weise unterstützt. Sie war Ehefrau, Kollegin und Kameradin gewesen. Bram hatte in seinem Leben schon eine Katastrophe durchgemacht: Sein zuckerkranker Sohn war in früher Jugend gestorben.
Daß er sich abgewandt hatte, als ich nach Molly fragte, war typisch für Brams Charakter. Er war Stoiker, ein Mann, der seine Freunde nie mit eigenen Sorgen und Nöten belastete. Als Afrikander, dessen Gewissen ihn zwang, sein eigenes Erbe abzulehnen und von seinen eigenen Leuten geächtet zu werden, zeigte er unvergleichlich viel Mut und Opferbereitschaft. Ich kämpfte nur gegen Ungerechtigkeit, nicht gegen mein eigenes Volk.
Ich erklärte dem Major, ich wolle Bram einen Beileidsbrief schreiben, und er hatte keine Einwände. Die Vorschriften über das Briefschreiben waren damals außerordentlich strikt. Wir durften nur an unsere unmittelbare Familie schreiben, alle sechs Monate nur einen Brief von 500 Wörtern. Ich war deshalb überrascht und erfreut, daß der Major nichts dagegen hatte, daß ich Bram schrieb. Aber er hielt sein Wort doch nicht. Ich schrieb den Brief, gab ihn dem Major, doch er wurde niemals aufgegeben.
Innerhalb weniger Monate hatte unser Leben ein neues Muster gefunden. Gefängnisleben hat mit Routine zu tun; jeder Tag ist wie der Tag zuvor, jede Woche ist wie die vorherige, so daß Monate und Jahre ineinander übergleiten. Was auch immer von diesem Muster abweicht, beunruhigt die Behörden, denn Routine ist das Zeichen für ein gut geführtes Gefängnis.
Routine ist auch für den Gefangenen tröstlich und kann ebendeshalb zur Falle werden. Routine ist wie eine bequeme Geliebte, der zu widerstehen schwerfällt, denn Routine läßt die Zeit schneller vergehen. Uhren jedwelcher Art waren auf Robben Island verboten, so daß wir niemals genau wußten, wie spät es war. Wir waren angewiesen auf Glockenklänge und auf die Pfiffe und Rufe der Wärter. Wenn jede Woche der vorherigen gleicht, erinnert man sich nur mit Mühe, welcher Tag und welcher Monat es gerade ist. Mit das erste, was ich tat, war das Anlegen eines Kalenders an der Wand meiner Zelle. Der Verlust des Zeitgefühls ist eine bequeme Methode, die Kontrolle über sich selbst und sogar über seine geistige Gesundheit zu verlieren.
Die Zeit verlangsamt sich im Gefängnis; die Tage scheinen endlos. Die Redensart von der so langsam vergehenden Zeit hat für gewöhnlich mit Müßiggang und Untätigkeit zu tun. Aber das war auf Robben Island nicht der Fall. Wir waren fast die ganze Zeit beschäftigt, mit Arbeit, Studium, analytischen Gesprächen. Trotzdem verging die Zeit niemals glatt. Das war teilweise mit der Grund dafür, daß Dinge, für die man draußen einige Stunden oder Tage benötigt, im Gefängnis Monate oder Jahre in Anspruch nahmen. Der Antrag auf eine neue Zahnbürste konnte ein halbes oder ein ganzes Jahr brauchen, bis er erfüllt wurde. Ahmed Kathrada sagte einmal, im Gefängnis könnten die Minuten wie Jahre erscheinen, doch die Jahre vergingen wie Minuten. Ein Nachmittag beim Steineklopfen im Hof mag wie eine Ewigkeit sein, doch plötzlich ist das Jahr zu Ende, und man weiß nicht, wo all die Monate geblieben sind.
Das Problem für jeden Gefangenen, zumal für jeden politischen, besteht darin, wie er das Gefängnis ohne Schaden überleben kann, wie er aus dem Gefängnis unversehrt wieder herauskommt, wie er seine Überzeugungen bewahrt und sogar verstärkt. Die erste Aufgabe besteht darin, genau zu lernen, was man zu tun hat, um zu überleben. Zu diesem Zweck muß man die Absicht des Feindes kennen, ehe man sich eine Strategie aneignet, um diese Absicht zu unterminieren. Zweck des Gefängnisses ist natürlich, den Geist des Gefangenen zu brechen und seine Willenskraft zu vernichten. Um dies zu erreichen, beuten die Behörden jede Schwäche aus, zerstören jede Initiative, negieren alle Zeichen von Individualität, alles mit dem Gedanken, jenen Funken auszutreten, der jeden von uns zum Menschen macht und jeden von uns zu dem, was er ist.
Unser Leben hing davon ab, daß wir verstanden, was die Behörden mit uns zu tun versuchten, und dieses Verstehen einander mitzuteilen. Für einen einzelnen Mann wäre es sehr schwer, wenn nicht unmöglich gewesen, zu widerstehen. Ich weiß nicht, ob ich es hätte
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