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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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Erfahrungen und ein wenig Weisheit gewonnen hat. Daran dachte ich, als ich allein nach Johannesburg zurückreiste. Ich hatte seit 1934 viele wichtige Flüsse meines eigenen Landes überquert, den Mbashe und den Great Kei, auf meinem Weg nach Healdtown; den Oranje und den Vaal auf meinem Weg nach Johannesburg. Doch ich hatte noch viele Flüsse zu überqueren.
     
     
    Ende 1942 bestand ich die Schlußprüfung für meinen B. A. Ich hatte jetzt den Rang erreicht, den ich einst so übergroß eingeschätzt hatte. Ich war stolz, meinen B. A. bekommen zu haben, doch ich wußte auch, daß der Grad als solcher weder ein Talisman war noch ein Passierschein zu leichtem Erfolg.
    In der Kanzlei war, sehr zu Mr. Sidelskys Leidwesen, mein Verhältnis zu Gaur immer enger geworden. Bildung, so argumentierte Gaur, sei wesentlich für unser Vorankommen, doch er betonte, daß kein Volk und keine Nation sich jemals durch Bildung allein befreit hätten. »Bildung ist schön und gut«, sagte Gaur, »aber wenn wir darauf bauen, so werden wir tausend Jahre auf unsere Freiheit warten müssen. Wir sind arm, wir haben wenige Lehrer und noch weniger Schulen. Wir haben nicht einmal die Macht, uns selbst zu erziehen.«
    Gaur war ein Mensch, dem an realen Lösungen mehr lag als an hochgestochenen Theorien. Für Afrikaner, betonte er, sei der beste Weg, Macht in Südafrika zu erlangen. Er sprach von der langen Geschichte des ANC im Kampf für Veränderungen, erklärte, der ANC, 1912 gegründet, sei die älteste nationale afrikanische Organisation im Lande. Seine Verfassung verurteilte Rassismus, seine Präsidenten seien aus verschiedenen Stammesgruppen gekommen, und er forderte für die Afrikaner die Anerkennung als vollwertige Bürger Südafrikas.
    Trotz Gaurs Mangel an formaler Bildung war er mir praktisch auf jedem Wissensgebiet überlegen. Während der Mittagspausen hielt er oft improvisierte Vorlesungen; er lieh mir Bücher, empfahl mir Leute, mit denen ich sprechen, und Zusammenkünfte, an denen ich teilnehmen sollte. In Fort Hare hatte ich zwei Kurse in moderner Geschichte gehalten, und während ich viele Fakten kannte, wußte Gaur die Gründe für bestimmte Handlungen zu erklären, die Gründe, warum Menschen und Nationen so gehandelt hatten, wie sie es getan hatten. Ich hatte das Gefühl, Geschichte völlig neu zu lernen.
    Den tiefsten Eindruck auf mich machte Gaurs absolutes Engagement für den Freiheitskampf. Er lebte und atmete für die Sache der Befreiung. Manchmal nahm Gaur an einem Tag an mehreren Versammlungen teil, wo er sich eindrucksvoll als Redner hervortat. Er schien an nichts anderes als an Revolution zu denken.
    Ich ging mit ihm zu vielen Treffen des Township Advisory Board wie auch des ANC. Ich ging auch als Beobachter, nicht als Teilnehmer, denn ich glaube nicht, daß ich jemals das Wort ergriffen habe. Ich wollte die diskutierten Themen verstehen, die Argumente einschätzen, das Format der Teilnehmer kennenlernen. Während die Treffen des Advisory Board eher oberflächlich und bürokratisch waren, verliefen die ANC-Versammlungen überaus lebhaft, mit Debatten über das Parlament, die Paßgesetze, Mieten, Busfahrpreise – über alle Themen, die Afrikaner berührten.
    1943 marschierte ich mit Gaur und zehntausend anderen beim Busboykott von Alexandra mit, als Protest gegen die Erhöhung der Fahrpreise von vier auf fünf Pence. Gaur war einer der Führer, und ich sah ihn in Aktion. Diese Kampagne hatte große Wirkung auf mich. Meine Rolle als Beobachter gab ich in gewisser Weise auf und wurde zum Teilnehmer. Der Marsch mit eigenen Leuten, fand ich, war aufregend und anregend zugleich. Doch ich war auch beeindruckt von der Effektivität des Boykotts: Nach neun Tagen, an denen die Busse leer fuhren, reduzierte die Busgesellschaft die Fahrpreise wieder auf vier Pence.
    Gaurs Ansichten waren jedoch nicht die einzigen, denen ich in der Kanzlei aufmerksam zuhörte. Hans Muller war ein weißer Immobilienhändler, der mit Mr. Sidelsky Geschäfte machte und mich manchmal in eine Diskussion verwickelte. Er war der Prototyp eines Geschäftsmanns, der die Welt aus dem Blickwinkel von Angebot und Nachfrage betrachtete. Eines Tages deutete Mr. Muller aus dem Fenster: »Schauen Sie dort hinaus, Nelson«, sagte er. »Sehen Sie die Männer und Frauen dort die Straße auf und ab laufen? Hinter was sind die her? Wofür arbeiten sie so fieberhaft? Ich werde es Ihnen sagen: Sie sind alle, ohne Ausnahme, hinter Reichtum und Geld her. Weil Reichtum

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