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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelson Mandela
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weiße Regierung förderte, und war nicht fähig, mich mit meinem eigenen Fleisch und Blut zu unterhalten. Ohne Sprache kann man nicht zu Menschen reden und sie verstehen; kann ihre Hoffnungen und Sehnsüchte nicht teilen, ihre Geschichte nicht begreifen, ihre Poesie nicht schätzen, ihre Lieder nicht genießen. Mir wurde einmal mehr bewußt, daß wir nicht verschiedene Völker mit verschiedenen Sprachen waren; wir waren ein Volk mit verschiedenen Sprachen.
     
     
    Weniger als sechs Monate nach dem Besuch des Regenten erfuhren Justice und ich vom Tod seines Vaters im Winter 1942. Er hatte erschöpft ausgesehen, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und so war sein Tod keine große Überraschung. Wir erfuhren von seinem Tod aus der Zeitung, weil das Telegramm, das man Justice geschickt hatte, verlorengegangen war. Wir reisten eilig in die Transkei, trafen jedoch erst einen Tag nach der Bestattung des Regenten ein.
    Obwohl ich enttäuscht war, die Beisetzung des Regenten versäumt zu haben, spürte ich jedoch Erleichterung darüber, daß ich mich mit ihm vor seinem Tod ausgesöhnt hatte. Trotzdem empfand ich Gewissensbisse. Ich hatte immer gewußt, daß der Regent, mochten mich auch all meine Freunde verlassen, all meine Pläne scheitern und all meine Hoffnungen schwinden, mich niemals, selbst nicht während unserer Entfremdung, im Stich lassen würde. Ich aber hatte ihn zurückgewiesen, und ich fragte mich, ob meine Flucht seinen Tod beschleunigt hatte.
    Das Dahinscheiden des Regenten beraubte uns eines aufgeklärten, toleranten Mannes, der das Ziel erreicht hatte, das die Regierungszeit aller großen Führer kennzeichnet: Er hielt sein Volk vereint. Liberale und Konservative, Traditionalisten und Reformer, Büroangestellte und Minenarbeiter, sie alle blieben ihm gegenüber loyal, nicht weil sie immer mit ihm übereinstimmten, sondern weil der Regent alle anderen Meinungen anhörte und sie respektierte.
    Ich verbrachte nach der Bestattung fast eine Woche in Mqhekezweni; es war eine Zeit der Rückschau und der Entdeckung. Es hat etwas ganz Besonderes, zu einem Ort zurückzukehren, der unverändert geblieben ist, und festzustellen, in welcher Weise man sich selbst gewandelt hat. Der Große Platz war noch genauso wie früher, als ich dort aufgewachsen war, doch mir wurde bewußt, daß sich meine Anschauungen und Ansichten von der Welt weiterentwickelt hatten. Die Aussicht auf eine Laufbahn im Zivildienst oder als Dolmetscher im Native Affairs Department hatte ihre Anziehungskraft verloren. Ich sah meine Zukunft nicht mehr verbunden mit dem Thembuland und der Transkei. Auch erfuhr ich, daß mein Xhosa nicht mehr rein war, sondern beeinflußt war von Zulu, einer der dominierenden Sprachen im Reef. Mein Leben in Johannesburg, mein Umgang mit Männern wie Gaur Radebe, meine Erfahrungen in der Anwaltskanzlei hatten meine Überzeugungen radikal geändert. Ich blickte zurück auf jenen jungen Mann, der von Mqhekezweni fortgegangen war, und sah einen ziemlich naiven und provinzlerischen Burschen, der wenig von der Welt gesehen hatte. Nun glaubte ich, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Auch dies war natürlich eine Illusion.
    Dennoch spürte ich einen inneren Widerstreit zwischen Kopf und Herz. Mein Herz sagte mir, daß ich ein Thembu war, daß man mich großgezogen und zur Schule geschickt hatte, damit ich eine besondere Rolle für das Fortbestehen des Königtums spielen konnte. Hatte ich keine Verpflichtungen den Toten gegenüber? Gegenüber meinem Vater, der mich in die Obhut des Regenten gegeben hatte? Gegenüber dem Regenten selbst, der für mich gesorgt hatte wie ein Vater? Doch mein Kopf sagte mir, daß jeder Mensch das Recht habe, seine eigene Zukunft so zu planen, wie es ihm gefällt, und selbst zu entscheiden, welche Rolle er im Leben spielen will. War mir nicht gestattet, meine eigenen Entscheidungen zu treffen?
    Justices Situation unterschied sich von meiner eigenen. Nach dem Tod des Regenten kamen wichtige neue Verantwortungen auf ihn zu. Er hatte dem Regenten als Häuptling von Mqhekezweni nachzufolgen und hatte beschlossen, zu bleiben und sein Geburtsrecht wahrzunehmen. Ich mußte nach Johannesburg zurückkehren und konnte nicht einmal bleiben, um seiner Einsetzung als Häuptling beizuwohnen. In unserer Sprache gibt es ein Sprichwort: Ndiwelimilambo enamagama – Ich habe berühmte Flüsse überquert. Das Sprichwort bedeutet, daß man über große Entfernungen gereist ist, daß man viele

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