Der lange Weg zur Freiheit
buhte, und ich erkannte, daß die Dinge äußerst häßlich verlaufen könnten, wenn die Menge nicht die Kontrolle behielt. Ich lief zum Podium und begann, einen bekannten Protestsong zu singen, und kaum hatte ich die ersten Worte vorgetragen, da fiel die Menge ein. Ich befürchtete, die Polizei könnte das Feuer eröffnen, würde die Menge zu aufgeregt.
Der ANC hielt damals an jedem Sonntagabend auf dem Freedom Square (Freiheitsplatz) im Zentrum von Sophiatown Versammlungen ab, um Widerstand gegen die Räumung zu mobilisieren. Es waren höchst lebhafte Zusammenkünfte, unterbrochen von Rufen wie »Asihambi!« (»Wir gehen nicht weg!«) und dem Gesang des Liedes »Sophiatown likhaya lam asihambi« (»Sophiatown ist mein Zuhause, wir gehen nicht weg«). Auf den Versammlungen sprachen führende ANC-Mitglieder, Grundbesitzer, Mieter, Gemeinderäte und oft auch Father Huddleston, der die Warnungen der Polizei, sich auf Kirchenangelegenheiten zu beschränken, in den Wind schlug.
Eines Sonntagabends, nicht lange nach dem geschilderten Zwischenfall, sollte ich auf dem Freedom Square in Sophiatown sprechen. Die Menge an jenem Abend war leidenschaftlich, und zweifellos haben ihre Emotionen meine beeinflußt. Es waren viele junge Menschen darunter, voller Zorn und tatendurstig. Wie gewöhnlich waren wir gleichsam umzingelt von Polizisten, die bewaffnet waren mit Schußwaffen und Schreibstiften, mit letzteren, um sich Notizen zu machen darüber, wer sprach und was gesagt wurde. Wir versuchten, daraus eine Tugend zu machen, indem wir den Polizisten so offen wie möglich begegneten, um ihnen zu zeigen, daß wir nichts zu verbergen hatten, nicht einmal unseren Abscheu vor ihnen.
Ich begann, von der zunehmenden Unterdrückung durch die Regierung im Gefolge der Mißachtungskampagne zu sprechen. Ich sagte, die Regierung fürchte sich jetzt vor der Macht des afrikanischen Volkes. Während ich sprach, wurde ich zunehmend von Empörung erfüllt. Ich hatte damals etwas von einem Volksaufwiegler. Es gefiel mir, meine Zuhörer aufzustacheln, und das tat ich an jenem Abend.
Als ich die Regierung wegen ihrer Rücksichtslosigkeit und Gesetzlosigkeit verdammte, überschritt ich die Grenzlinie. Ich sagte, die Zeit für passiven Widerstand sei vorbei, Gewaltlosigkeit sei eine zwecklose Strategie, die niemals den Sturz eines weißen Minderheitenregimes herbeiführen könne, das fest entschlossen sei, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Am Ende des Tages, sagte ich, sei Gewalt die einzige Waffe, welche die Apartheid vernichten werde, und wir müßten bereit sein, in naher Zukunft diese Waffe zu ergreifen.
Die Menge war erregt; vor allem die Jugendlichen klatschten und jubelten. Sie wollten sofort meine Worte in die Tat umsetzen. An diesem Punkt begann ich ein Freiheitslied zu singen, dessen Text lautet: »Dort stehen die Feinde, laßt uns unsere Waffen nehmen und sie angreifen.« Ich sang dieses Lied, und die Menge fiel ein, und als das Lied zu Ende war, deutete ich auf die Polizei und sagte: »Dort, dort stehen unsere Feinde!« Die Menge begann wieder zu jubeln und vollführte aggressive Gesten in Richtung der Polizei. Die Polizisten blickten nervös drein, und mehrere von ihnen deuteten auf mich, als wollten sie sagen: »Mandela, dafür kriegen wir dich dran.« Aber das störte mich nicht. In der Hitze des Augenblicks dachte ich nicht an die Konsequenzen.
Allerdings kamen meine Worte an jenem Abend nicht aus dem Nichts. Ich hatte über die Zukunft nachgedacht. Die Regierung war eifrig dabei, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollten, daß sich so etwas wie die Mißachtungskampagne wieder ereignen könne. Ich hatte angefangen, den Kampf unter anderen Gesichtspunkten zu analysieren. Der Ehrgeiz des ANC war es, einen Massenkampf zu führen, die Arbeiter und Bauern Südafrikas in einer Kampagne zusammenzuführen, die so groß und machtvoll sein würde, daß sie den Status quo der weißen Unterdrückung überwinden könnte. Aber die nationalistische Regierung machte jede rechtmäßige Äußerung von Widerspruch oder Protest unmöglich. Ich sah voraus, daß sie jeglichen legitimen Protest seitens der afrikanischen Mehrheit rücksichtslos unterdrücken werde. Ein Polizeistaat schien nicht mehr sehr weit.
Ich begann zu ahnen, jeder legale oder auch außerkonstitutionelle Protest werde bald unmöglich sein. In Indien hatte Gandhi es mit einer ausländischen Macht zu tun, die letztendlich realistischer und weitsichtiger war. Das war
Weitere Kostenlose Bücher