Der langsame Tanz
geschwollen. Für einen Junitag in Hamburg ist das Wetter ungewöhnlich schön. Blauer Himmel, Sonne, Stimmen in der Luft, und die Leute machen den Eindruck, als gingen sie gern zur Arbeit. Ist das schon Nostalgie ?
Sein geliebtes Hamburg hat ihn wieder, wenn auch nur incognito ?
Das Radisson ist zu Fuß erreichbar und für seine Zwecke das richtige Hotel. Von hier sind es nur ein paar hundert Schritte bis zum Durchschnitt, der kleinen Gasse, die von der Verbindungsbahn zur Grindelallee führt.
Er trägt sich als Lohrner ein und legt mit Herzklopfen den gestohlenen Ausweis vor. Den Koffer läßt er an der Rezeption und frühstückt, während sein Zimmer hergerichtet wird. Für den »Toten« wäre es wohl unklug, zu solch ungewöhnlicher Zeit anzureisen. Der Portier würde sich deshalb an ihn erinnern. Ist notiert, denkt er und merkt, daß er kaum noch die Augen offenhält.
*
Jetzt müßte er sehr vorsichtig sein. Zwar kann er davon ausgehen, daß ihn die meisten seiner Bekannten in diesem Aufzug nicht beachten würden, aber Stimme, Gang und Gestik verraten einen Menschen oft genauso wie sein Aussehen. Taxifahren wäre nicht oder nur mit größeren Vorsichtsmaßnahmen möglich, denn jederzeit könnte einer seiner ehemaligen Kollegen am Steuer sitzen und sagen : »Ich hab für deinen Kranz gespendet.«
Die Gegend um den Grindelhof war sein Kiez, alle möglichen Leute könnten ihn erkennen. Die beste Zeit, um ungesehen durch den Hausflur zu kommen, ist der Nachmittag zwischen drei und vier, denn alle Hausbewohner arbeiten tagsüber. Anne und er nahmen immer Eilbriefe und Pakete für die Nachbarn an.
Er fühlt sich frisch nach den paar Stunden Schlaf und brennt darauf, seinen kleinen Pseudo-Einbruch zu bewerkstelligen. Ob das Beil noch immer in der Tischplatte steckt ? Ob Anne ihre Sachen schon abgeholt hat ?
Ob ihr eingefallen ist, die Wohnung zu kündigen, oder ob sie glaubt, er mache nur Urlaub irgendwo. Wenn er tot wäre, müßte sie kündigen. Was täte sie dann mit seinen Sachen ?
Auf dem Weg durch den Park versucht er, anders zu gehen. Aber wer kennt schon den eigenen Gang ? Er kann nicht beurteilen, ob es gelingt.
Der Hausflur ist leer, und sein Schlüssel paßt noch.
Natürlich paßt er noch, er ist ja nicht tot. Und selbst dann, wegen eines Ertrunkenen wechselt niemand die Schließanlage aus. Wer sollte einbrechen ? Ein Fisch ?
Jemand hat das Beil aus der Tischplatte gezogen, und die Spiegelscherben und Geldscheinschnipsel sind verschwunden. Hat Anne sie weggeworfen oder zusammengeklebt ? In der Küche steht ein Blumenstrauß, und in Annes Kleiderschrank liegen Sachen, die er nicht kennt. Nichts mehr von Anne, aber Frauenkleider. Wäsche und Toilettenutensilien, ein kleiner Koffer und ein halbgefüllter Seesack. In der ganzen Wohnung ist kein einziges Bild mehr. Keine Farbtube, kein Pinsel, kein Stück Leinwand.
Kaum spürt er, wie ihm der Ärger hochkommt über diese Unverschämtheit, sein Bild mitzunehmen und dann noch irgendwen in die Wohnung zu setzen, da hört er die Türe gehen. Er drückt sich in die kleine Speisekammer im Durchgang zur Küche und zieht die Tür so weit zu, daß nur noch ein kleiner Spalt offensteht.
Es ist Marlies.
Er schwitzt. Was für eine beschissene Situation. Er wohnt hier, wieso versteckt er sich ? Wenn sie jetzt in die Speisekammer schaut ? Sie geht, vor sich hinsummend und hier und da irgendwelche Dinge ablegend, ein paarmal an ihm vorbei und dann, nach einer kurzen Pause, nackt mit einer Flasche Shampoo in der Hand durch die Küche ins Bad. Er kann durch den Spalt nur in Richtung des Zimmers sehen und wartet, bis er die Dusche rauschen und die Tür der Kabine sich schließen hört, um so schnell und leise wie möglich aus der Wohnung zu verschwinden. Am liebsten würde er die Tür zuschlagen, so wütend ist er, aber als Toter kann er sich das nicht leisten.
*
Zurück im Radisson könnte er noch immer in die Möbel treten, und sein Arger weicht nur allmählich der Bereitschaft, gründlich nachzudenken : Sie hat sein Bild mitgenommen, wieso ? Wollte sie es ausstellen ? Vor zwei Monaten erst kam das Angebot. Ganz aufgeregt war sie damals, als winke hier der große Durchbruch. Eine kleine Galerie am Mittelweg, vermutlich von Volkers Renommee geblendet, war bereit, eine Einzelausstellung zu machen. Sie stotterte fast vor Freude darüber, in Pöseldorf zu hängen.
Nun, das läßt sich ja nachprüfen. Er braucht nur hinzu-gehen und nachzusehen, ob das
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