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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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sich gerade noch am Tisch festhalten, die Tischdecke rutschte ein Stück, drohte Teller, Gläser und Besteck mitzureißen. Joséphine rang um Fassung und reichte ihren Mantel der jungen Garderobiere, die ihren Beinahesturz ungerührt mit angesehen hatte. Sie atmete schwer. Sie schwitzte. Sie würde sich hier nicht mehr vom Fleck rühren, nicht einmal, um auf die Toilette zu gehen. Es war zu gefährlich. Sie würde sitzen bleiben und auf Iris warten. Ihre Sinne waren so angespannt, dass jeder Blick, der an ihr hängen bliebe, jeder spöttische Tonfall sie verletzen konnte.
    So saß sie da und betete, dass die Leute sie vergessen mochten. Die Paare ringsum tranken Champagner und lachten unbeschwert. Alles an ihnen atmete Anmut und Leichtigkeit. Wo hatten sie bloß gelernt, so unbefangen zu sein? Dabei ist es in Wahrheit doch komplizierter, dachte Joséphine. Hinter diesen schönen Fassaden verbergen sich Lügen, unredliches Verhalten, Treulosigkeit und andere Geheimnisse. Manche, die einander zulächeln, halten den Dolch schon im Ärmel bereit. Aber sie beherrschen diese Kunst, die Kunst des schönen Scheins.
    Sie schob die Füße unter den Tisch – sie hätte andere Schuhe anziehen sollen –, versteckte ihre Hände in der weißen Serviette – ihre Fingernägel schrien nach einer Maniküre – und wartete auf Iris. Sie würde sie nicht übersehen können. Ihr Tisch war der Mittelpunkt des Restaurants.
    Nun würde sie also ihre Schwester wiedersehen …
    Seit einiger Zeit stürmten unablässig widerstreitende Gedanken auf sie ein. Iris. Philippe. Iris, Philippe. Philippe … Sein Name verströmte eine ruhige Glückseligkeit, eine unbestimmte Freude, die sie einen Moment genoss wie ein Bonbon, um es gleich darauf, von Übelkeit erfasst, wieder auszuspucken. Unmöglich, zischte es in ihrem Kopf, vergiss ihn, vergiss ihn. Natürlich muss ich ihn vergessen. Und ich werde ihn vergessen. Zehneinhalb Minuten an der Backofentür sind doch keine Basis für eine echte Liebesbeziehung. Das ist lächerlich. Altmodisch. Jämmerlich. Es war eine Art Spiel, bei dem sie sich Dinge sagte, die sie nicht glaubte, um sich selbst davon zu überzeugen. Das funktionierte auch für eine Weile, sie hob den Kopf, entdeckte ein hübsches Paar Schuhe in einem Schaufenster, lächelte, summte die Titelmelodie eines Films vor sich hin, doch dann erhob sich erneut der Sturm, pfiff immer wieder das gleiche Wort: Philippe, Philippe. Sie klammerte sich an dieses Wort. Wiederholte es aufgewühlt. Philippe, Philippe. Was macht er gerade? Woran denkt er? Was empfindet er? Sie kreiste um diese Fragen wie eine angepflockte Ziege. Fügte weitere Pflöcke hinzu: Hasst er mich? Will er mich nie wieder sehen? Hat er mich vergessen? Mit Iris? Das war schon kein Gedanke mehr, es war eine endlose Leier, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekam, ein Refrain, der sie benommen machte.
    Und in diesem Moment betrat Iris den Raum.
    Staunend beobachtete Joséphine den Auftritt ihrer Schwester. Der Sturm legte sich, und eine leise Stimme erklang: Wie schön sie ist! Oh, mein Gott, wie schön sie doch ist!
    Gelassen kam sie in das Restaurant, triumphierend wie ein Eroberer auf besiegtem Terrain. Langer, beigefarbener Kaschmirmantel, hohe Wildlederstiefel, eine auberginefarbene Bluse, ein breiter Gürtel tief auf den Hüften. Ketten, Armbänder, volles, langes schwarzes Haar, blaue Augen, die den Raum kühl durchmaßen. Sie reichte der Garderobiere, die sie bewundernd ansah, ihren Mantel, bedachte die Gäste an den umstehenden Tischen mit einem abwesenden Lächeln und trat, nachdem sie die Blicke wie Opfergaben entgegengenommen hatte, an den Tisch, an dem ihre Schwester sie verschüchtert erwartete.
    Selbstsicher schaute sie strahlend auf ihre Schwester hinab.
    »Habe ich dich warten lassen?«, fragte sie und gab vor, gerade erst zu bemerken, dass sie zwanzig Minuten zu spät kam.
    »Oh, nein. Ich war zu früh da!«
    Iris lächelte immer noch, unermesslich, geheimnisvoll, großmütig. Sie breitete ihr Lächeln aus wie einen Stoffballen auf einer chinesischen Ladentheke. Wandte sich den Nachbartischen zu, um sich zu vergewissern, dass man sie auch gesehen hatte, dass man erkannt hatte, wer sie war und mit wem sie essen würde, lächelte dem einen zu, winkte dem anderen. Joséphine betrachtete sie wie ein Porträt: eine verführerische, elegante Frau mit ebenmäßigen Zügen und schönheitsschweren Augen, in deren Hals- und Schulterlinie etwas Stolzes, Eigensinniges, ja

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