Der langsame Walzer der Schildkroeten
zärtliche Geste ihr gegenüber, seit ich sie kenne, dachte sie bei sich.
»Ich habe ihm nicht deinen Namen gesagt, Shirley. Für dich und Gary habe ich zwei Namen erfunden, aber ich habe den Namen deines Chefs genannt: Zachary Gorjiack … und das hat ihn gestoppt! Wenigstens so weit, dass er aus dem Badezimmer gegangen ist, um mit den anderen Zwergen zu reden.«
»Bist du sicher, dass du Gary nicht erwähnt hast?«, hakte Shirley nach.
Sie dachte an den Mann in Schwarz, fragte sich, ob er möglicherweise in den Angriff auf Hortense verwickelt war. Ob das nicht ein Trick war, um an Gary heranzukommen. Sie hatte immer noch Angst um ihren Sohn.
»Ganz sicher. Ich habe nur Zachary Gorjiacks Namen genannt … das ist alles. Ach, doch! Ich habe von dem Unfall seiner Tochter Nicole erzählt …«
»Gut.« Shirley überlegte kurz. »Ich rede mit Zachary. Danach werden sie wohl keinen Mucks mehr von sich geben … Aber bis es soweit ist, nimmst du dich lieber in Acht. Hast du vor, weiter zur Schule zu gehen?«
»Ich lasse doch dieser blöden Schlampe nicht zum Dank auch noch freie Bahn! Heute Nachmittag gehe ich wieder hin … Und dann kann sie sich auf etwas gefasst machen!«
»Und wo willst du unterkommen, bis alles geklärt ist?«
Hortense drehte sich zu Gary um.
»Bei mir«, sagte Gary, »aber nur vorübergehend. Sie muss sich eine neue Wohnung suchen …«
»Kann sie nicht einfach hierbleiben? Deine Wohnung ist doch groß genug.«
»Ich brauche meine Ruhe, M’man.«
»Gary«, beharrte Shirley. »Das ist nicht der richtige Moment, um egoistisch zu sein!«
»Darum geht es doch gar nicht! Aber ich habe in meinem Kopf so viele Dinge zu entscheiden, und dazu muss ich allein sein.«
Hortense sagte nichts. Sie schien ihm zuzustimmen. Erstaunlich, diese Verbundenheit zwischen den beiden, dachte Shirley.
»Oder ich überlasse ihr die Wohnung und ziehe selbst woanders hin … Das ist mir egal.«
»Kommt nicht infrage«, widersprach Hortense. »Ich suche mir schon eine Wohnung. Gib mir nur ein bisschen Zeit, um mich zu erholen …«
»Einverstanden.«
»Danke«, sagte Hortense. »Du bist echt nett. Und du auch, Shirley.«
Unwillkürlich bewunderte Shirley dieses Mädchen, das fünf Gangstern die Stirn bot und mitten in der Nacht mit klaffenden Wunden im Gesicht und auf den Brüsten durch ein Fenster floh, ohne zu jammern. Vielleicht habe ich sie ja falsch eingeschätzt …
»Ach, noch etwas, Shirley«, fügte Hortense hinzu. »Komm ja nicht auf die Idee, meiner Mutter etwas davon zu erzählen, hörst du …«
»Warum denn nicht?« Vor Überraschung blieb Shirley fast die Luft weg. »Sie muss doch wissen …«
»Nein«, fiel Hortense ihr ins Wort. »Das würde ihr das ganze Leben versauen. Sie würde sich ständig Sorgen machen, sie könnte nicht mehr schlafen, sie würde schlottern vor Angst, und ganz nebenbei würde sie mich wahnsinnig machen … Und das ist noch höflich ausgedrückt!«
»Na gut, unter einer Bedingung …«, willigte Shirley ein. »Mir erzählst du im Gegenzug alles. Jedes einzelne Detail! Versprochen?«
»Versprochen«, antwortete Hortense.
Gary hatte recht gehabt: Agathe war nicht in der Schule. Hortenses Erscheinen löste einen Aufruhr aus, ihre Mitschüler drängten sich um sie, und von allen Seiten prasselten Fragen und entsetzte Ausrufe auf sie ein. Die Mitschüler, die sie mit angewiderter oder mitleidiger Miene musterten, gierten nach Einzelheiten. Man forderte sie auf, die Sonnenbrille hochzuschieben, um das ganze Ausmaß ihrer Verletzungen zu sehen. Sie weigerte sich und erklärte, sie sei doch keine Kirmesattraktion, für sie sei die Sache jetzt erledigt.
Sie hängte eine Anzeige ans Schwarze Brett der Schule.
Darin betonte sie, dass sie eine Mitbewohnerin suche, die weder rauchte noch trank. Und am liebsten auch noch Jungfrau war, dachte sie, als sie den Zettel feststeckte.
Als sie in Garys Wohnung zurückkam, saß er am Klavier. Sie schlich auf Zehenspitzen durch den Flur in ihr Zimmer. Sie kannte das Stück, Time Remembered , in der Fassung von Bill Evans. Sie legte sich aufs Bett und zog die Schuhe aus. Die Melodie war so traurig, dass es sie nicht überraschte, Tränen auf ihren Wangen zu spüren. Ich bin ja doch nicht aus Stein, ich bin ein Mensch mit Gefühlen und Emotionen, dachte sie mit der Verwunderung jener, die sich immer für unverwundbar gehalten haben und plötzlich einen Riss in ihrem Panzer entdecken. Ich gönne mir jetzt zehn Minuten Schwäche, und dann
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