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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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greife ich wieder zu den Waffen. An ihrer Überzeugung, dass Gefühle ernsthafte gesundheitliche Schäden nach sich zogen, hatte sich nichts geändert.
    Es verging eine Woche, ehe sie einen Anruf von einem Mädchen erhielt, das eine Mitbewohnerin suchte. Sie hieß Li May, war Chinesin, stammte aus Hongkong und schien sehr strenge Prinzipien zu haben: Ihre letzte Mitbewohnerin hatte sie rausgeworfen, weil diese auf dem Balkon ihres Zimmers eine Zigarette geraucht hatte. Die Lage war gut, gleich hinter dem Piccadilly Circus. Die Miete akzeptabel, die Wohnung in einer der oberen Etagen. Hortense sagte zu.
    Sie lud Gary zum Essen ein. Er studierte die Speisekarte konzentriert wie ein Buchhalter die Jahresabschlussbilanz. Schwankte zwischen Jakobsmuscheln auf Melba-Toast und pikant gewürztem jungem Rebhuhn an Saisongemüse. Entschied sich für das Rebhuhn und wartete schweigend auf sein Essen, die Augen hinter den dunklen Locken verborgen, die ihm ins Gesicht fielen. Kostete jeden Bissen so hingebungsvoll, als handelte es sich um himmlisches Manna.
    »Mir hat unsere WG gefallen. Du wirst mir fehlen«, seufzte Hortense beim Dessert.
    Er antwortete nicht.
    »Du könntest wenigstens so höflich sein, zu sagen ›ja, du wirst mir auch fehlen‹«, bemerkte sie.
    »Ich brauche meine Ruhe …«
    »Ich weiß, ich weiß …«
    »Man kann nicht auf ZWEI Menschen gleichzeitig achten: sich selbst und einen anderen. Es ist schon schwierig genug, herauszufinden, was man selber will …«
    »Ach, Gary«, stöhnte sie.
    »Du bist selbst das beste Beispiel dafür, Hortense.«
    Sie verdrehte die Augen und wechselte abrupt das Thema: »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass ich keine Sonnenbrille mehr trage? Ich habe mein Gesicht mit Make-up vollgekleistert, damit man die blauen Flecken nicht mehr sieht!«
    »Mir fällt alles an dir auf … Immer!«, entgegnete er gleichmütig.
    Sein eindringlicher Blick verwirrte sie, und sie schlug die Augen nieder. Spielte mit ihrer Gabel und zeichnete Linien auf die Tischdecke.
    »Und was ist mit Agathe? Hast du von der noch mal was gehört?«
    »Habe ich dir das nicht erzählt? Sie hat die Schule geschmissen! Während des Jahres! Einer der Dozenten hat es uns vor dem Unterricht gesagt: ›Agathe Nathier hat uns verlassen. Aus gesundheitlichen Gründen. Sie ist nach Paris zurückgekehrt.‹«
    Er schloss die Augen, um einen Bissen seines kandierten Apfels mit Calvadossorbet zu genießen.
    »Ich habe bei ihrer Mutter angerufen, und sie hat gesagt, dass sie krank sei und sie nicht wüssten, was sie hat … Ich habe gesagt, dass ich mit ihr sprechen wolle, dann hat sie mich nach meinem Namen gefragt und wollte nachsehen, ob Agathe wach sei – anscheinend schläft sie die ganze Zeit. Als sie wieder ans Telefon gekommen ist, hat sie gesagt, dass Agathe nicht mit mir sprechen könne. Zu müde. So ein Quatsch, wohl eher halb tot vor Angst! Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Eines Tages werde ich ihr mit einem Regenschirm vor ihrem Haus auflauern! Ein Regenschirm hinterlässt doch ordentliche Spuren, oder?«
    »Nicht so beeindruckende Spuren wie ein Gürtel!«
    »Oh … Und was ist mit Schwefelsäure?«
    »Perfekt!«
    »Und wo bekommt man das Zeug her?«
    »Keine Ahnung!«
    »Isst du dein Dessert nicht auf? Schmeckt es dir nicht? Ist es nicht gut?«
    »Doch! Ich genieße … Es ist köstlich, Hortense. Vielen Dank für das Essen.«
    »Du wirkst etwas abwesend …«
    »Ich dachte gerade an meine Mutter und diesen Zachary.«
    Hortense hatte nicht mehr mit Shirley über den Vorfall gesprochen, aber diese hatte ihr versichert, dass Zachary Gorjiack alles Nötige erledigt habe. Womöglich liegen sie mittlerweile alle fünf mit Betonblöcken beschwert auf dem Grund der Themse. Vielleicht hatten sie, bevor sie ins Wasser geworfen wurden, noch genug Zeit, Zachary zu fragen, womit sie diese grausame Behandlung verdient hatten, und ich hoffe sehr, dass er dann meinen Namen erwähnt hat.
    Sie zog ein Bündel Scheine aus der Tasche und legte sie mit einem triumphierenden »Tadaaa« auf die Rechnung, die der Kellner gerade gebracht hatte.
    »Das ist das erste Mal, dass ich einen Jungen zum Essen einlade. Oh, mein Gott, mit mir geht’s bergab!«
    Arm in Arm gingen sie nach Hause und plauderten über die Glenn-Gould-Biografie, die Gary gerade gekauft hatte. Sie durchquerten den Park. Gary hielt nach ein, zwei Eichhörnchen Ausschau, aber sie schliefen wohl schon. Es war eine schöne Nacht mit sternenklarem Himmel. Wenn

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