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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Wege durch den Park sind abends nicht sonderlich gut beleuchtet.«
    Plötzlich wurden ihre Schläfen feucht, und ihre Knie zitterten.
    »Das ist bloß eine Kleinigkeit. Alles in allem ist die Gegend sehr schön und friedlich, und es gibt hier weder Jugendbanden, die sich zusammenrotten, noch diese Graffiti, die sämtliche Häuser verschandeln. Ich liebe den hellen Stein der Pariser Gebäude und ertrage es kaum, zu sehen, wie er beschmiert wird.«
    Zorn verzerrte kurz seine Stimme.
    »Außerdem haben wir hier Bäume, Blumen, Rasenflächen, man hört schon am frühen Morgen die Vögel singen, manchmal sieht man sogar ein Eichhörnchen weglaufen. Es ist sehr wichtig, dass Kinder in Kontakt mit der Natur bleiben. Magst du Tiere?«, fragte er Zoé.
    Diese hielt den Blick starr auf den Boden gesenkt. Sie erinnerte sich sicher daran, was Paul über seinen Kellernachbarn gesagt hatte, und wahrte Distanz, weil sie ihrem neuen Freund gegenüber loyal bleiben wollte.
    »Hast du deine Zunge verschluckt?«, fragte der Mann und beugte sich mit einem freundlichen Lächeln zu ihr hinab.
    Zoé schüttelte den Kopf.
    »Sie ist schüchtern«, entschuldigte sich Joséphine.
    »Ich bin nicht schüchtern«, widersprach Zoé. »Ich bin zurückhaltend.«
    »Oh!«, bemerkte er. »Ihre Tochter verfügt über einen bemerkenswerten Wortschatz und ein Gespür für Nuancen.«
    »Das ist doch normal, ich bin schon in der neunten Klasse.«
    »Wie mein Sohn Gaétan … Und auf welche Schule gehst du?«
    »Rue de la Pompe.«
    »Meine Kinder auch.«
    »Und sind Sie mit der Schule zufrieden?«, erkundigte sich Joséphine, die fürchtete, Zoés Scheu könne peinlich werden.
    »Manche Lehrer sind ausgezeichnet, andere einfach unfähig. Dann müssen die Eltern die Versäumnisse des Lehrpersonals ausgleichen. Ich gehe zu allen Elternversammlungen. Dort werde ich Sie ja sicher auch demnächst sehen.«
    Der Fahrstuhl hatte die vierte Etage erreicht, und er stieg aus, vorsichtig seinen weißen Stoffbeutel auf den Händen balancierend. Er drehte sich noch einmal um und nickte ihnen freundlich zu.
    »Hast du gesehen?«, fragte Zoé. »In seinem Beutel hat sich was bewegt!«
    »Ach was! Er hat sicher nur ein Confit oder eine Ziegenkeule hochgeholt. Wahrscheinlich hat er eine Tiefkühltruhe im Keller. Dieser Mann ist bestimmt Jäger. Hast du gehört, wie er über die Natur sprach?«
    Zoé wirkte nicht überzeugt.
    »Nein, ehrlich, da drin hat sich was bewegt!«
    »Hör auf, ständig Geschichten zu erfinden, Zoé!«
    »Aber ich erzähle mir gerne Geschichten. Dann ist das Leben nicht so traurig. Wenn ich groß bin, werde ich Schriftsteller und schreibe so etwas wie Die Elenden …«
    Sie aßen zügig zu Abend. Joséphine gelang es, die Schnitte auf ihrem linken Handrücken zu verbergen. Zoé gähnte mehrmals, während sie ihren Fruchtzwerg aß.
    »Du bist müde, Schatz … Ab ins Bett.«
    Zoé wankte in ihr Zimmer. Als Joséphine nachkam, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, schlief sie schon fast. Auf dem Kopfkissen lag ihr vom häufigen Waschen fadenscheiniges Kuscheltier. Zoé schlief immer noch damit. Ihre glühende Liebe ging so weit, dass sie ihre Mutter fragte: »Findest du Nestor nicht auch wunderschön, Maman? Hortense sagt, er sei potthässlich!« Joséphine fiel es schwer, sich nicht Hortenses Meinung anzuschließen, aber sie log tapfer und bemühte sich, diesem unförmigen, verwaschenen Lappen noch einen winzigen Rest Schönheit abzugewinnen. In ihrem Alter sollte sie eigentlich ohne ein Kuscheltier auskommen, dachte Joséphine, sonst wird sie niemals erwachsen … Ihre wirren rotbraunen Locken breiteten sich über das weiße Bettlaken, ihre Hand lag völlig entspannt da, und mit dem kleinen Finger streichelte sie das, was einst Nestors Bein gewesen war und jetzt eher einer großen weichen Feige glich. Einem Hoden, behauptete Hortense immer, was Zoé angewidert aufschreien ließ. Maman, Maman, Hortense sagt, Nestor hätte keine Beine, sondern bloß zwei dicke Eier!
    Joséphine nahm Zoés Hand, spielte mit den Fingern und küsste sie einzeln. Papa Kuss, Maman Kuss, Hortense Kuss, Zoé Kuss, aber wer ist denn der kleine Kerl hier? Das war ihr Einschlafritual. Wie lange würde ihre Tochter ihr noch die Hand für den magischen Abzählreim überlassen, der die Nächte sanft und glücklich machte? Sie spürte, wie eine wehmütige Zärtlichkeit sie überkam. Zoé glich immer noch einem Kind: runde rote Wangen, eine kleine Nase, mandelförmige

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