Der langsame Walzer der Schildkroeten
auf einem neuen Blatt noch einmal sauber ab und schob sie in den Umschlag. Jetzt brauchte sie ihn nur noch bei der Concierge abzugeben.
Diese saugte gerade in ihrer Loge Staub. Den Staubsaugerschlauch wie eine metallene Boa um den Hals geschlungen, öffnete sie die Tür. Joséphine stellte sich vor und fragte, ob sie einen Umschlag für Herrn Luca Giambelli abgeben könne.
»Sie meinen Vittorio Giambelli?«
»Nein. Luca, seinen Bruder.«
Es fehlte gerade noch, dass Vittorio eine Nachricht der »Trantüte« in die Finger bekam!
»Hier gibt es keinen Luca Giambelli!«
»Doch, natürlich!«, entgegnete Joséphine lächelnd. »Groß, braune Haare, die ihm in die Augen fallen, trägt immer einen Dufflecoat!«
»Vittorio«, wiederholte die Frau und stützte sich dabei auf das Staubsaugerrohr.
»Nein! Luca. Sein Zwillingsbruder.«
Die Concierge schüttelte den Kopf und löste den Knoten der Boa.
»Kenn ich nicht.«
»Er wohnt im fünften Stock.«
»Vittorio Giambelli. Aber kein Luca …«
»Also bitte …« Joséphine verlor allmählich die Geduld. »Ich habe ihn doch schon hier besucht. Ich kann Ihnen seine Wohnung beschreiben. Und ich weiß auch, dass er einen Zwillingsbruder namens Vittorio hat, der Model ist, aber nicht hier wohnt.«
»Doch, genau der wohnt hier. Den anderen habe ich noch nie gesehen! Ich wusste ja nicht mal, dass er einen Zwillingsbruder hat. Hat er mir nie erzählt! Ich bin doch nicht bekloppt!«
Sie war beleidigt und kurz davor, die Tür wieder zu schließen.
»Bitte, haben Sie eine Minute für mich?«, bat Joséphine.
»Als ob ich nichts anderes zu tun hätte.«
Mürrisch ließ sie sie herein. Schob den Staubsauger zur Seite und legte die Boa weg.
»Der, den ich kenne, heißt Luca«, fasste Joséphine zusammen und hielt den Umschlag fest umklammert. »Er schreibt für einen italienischen Verlag ein Buch über die Geschichte der Tränen. Er verbringt viel Zeit in der Bibliothek und sieht aus wie ein Langzeitstudent. Er ist düster, melancholisch, lacht nicht oft …«
»Das können Sie laut sagen! Er hat einen schlimmen Charakter! Bei jeder Kleinigkeit regt er sich auf. Das liegt an seinem Sodbrennen. Er ernährt sich schlecht. Aber das ist ja auch kein Wunder, ein alleinstehender Mann kocht ja nicht für sich selbst!«
»Na, sehen Sie! Wir sprechen ja doch vom selben.«
»Ja, ja. Leute mit Verdauungsproblemen sind unberechenbar, ihre Laune hängt von ihren Magensäften ab. Und er ist dafür das beste Beispiel, heute lächelt er einen freundlich an, und morgen zieht er ein Gesicht. Vittorio, ich sag’s doch. Sehr schöner Mann. Fotomodell für Zeitschriften …«
»Nein! Sein Bruder Luca!«
»Ich sag Ihnen doch schon die ganze Zeit, es gibt keinen Luca. Es gibt einen Vittorio mit nervösem Magen! Ich muss es ja schließlich wissen, ich bringe ihm die Post rauf! Und auf den Umschlägen steht nicht Luca, da steht Vittorio. Knöllchen für Vittorio. Und Mahnungen für Vittorio. Hier gibt es genauso wenig einen Luca wie einen Geldbrunnen vorne an der Ecke! Glauben Sie mir nicht? Haben Sie den Schlüssel? Dann gehen Sie doch rauf und überzeugen Sie sich selbst …«
»Aber ich war doch schon hier, und ich weiß, dass ich Luca Giambelli besucht habe.«
»Wie oft soll ich Ihnen das denn noch sagen, hier wohnt nur einer, und das ist Vittorio Giambelli, Model und reizbarer Kerl mit Magenbeschwerden. Der seinen Ausweis verliert, seine Schlüssel verliert, seinen Kopf verliert und die Nacht auf dem Polizeirevier verbringt! Also erzählen Sie mir nicht, es wären zwei, wenn’s doch nur einer ist! Und das ist auch besser so, denn mit zweien von der Sorte würde ich wahnsinnig!«
»Das ist doch nicht möglich«, murmelte Joséphine. »Er ist Luca.«
»Vittorio. Vittorio Giambelli. Ich kenne seine Mutter. Ich habe mich mit ihr unterhalten. Nur Kummer hat sie mit ihm … Er ist ihr einziger Sohn, und das hat sie nicht verdient. Ich habe sie so dicht vor mir gesehen wie jetzt Sie. Da auf dem Stuhl hat sie gesessen …«
Sie deutete auf einen Stuhl, auf dem ein dicker grauer Kater schlief.
»Unter Tränen hat sie mir erzählt, wie schrecklich er sie behandelt. Sie wohnt nicht weit von hier. In Gennevilliers. Ich kann Ihnen die Adresse geben, wenn Sie wollen …«
»Das ist doch nicht möglich«, wiederholte Joséphine kopfschüttelnd. »Ich habe das doch nicht geträumt …«
»Ich fürchte, er hat Ihnen Märchen erzählt, junge Frau. Schade, dass er nicht da ist. Er ist nach Italien
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