Der langsame Walzer der Schildkroeten
Shirleys Vergangenheit wieder auf, ihre Kenntnis einer Welt voller Gewalt. Um das Geheimnis ihrer Geburt zu verschleiern, hatte Shirley eine Weile für den Geheimdienst Ihrer Majestät gearbeitet. Sie war zur Leibwächterin ausgebildet worden, hatte gelernt, zu kämpfen, sich zu verteidigen, in Gesichtern die geheimsten Absichten, die winzigsten Regungen zu erkennen. Sie hatte mit Männern zusammengearbeitet, die zu allem bereit waren, hatte Komplotte vereitelt und gelernt, in das Denken von Verbrechern einzutauchen. Joséphine bewunderte ihre Beherrschtheit. Jeder von uns kann zum Verbrecher werden, sagte sie oft, wenn Joséphine sie ausfragte, das Erstaunliche ist nicht, dass so etwas passiert, sondern dass es nicht viel häufiger passiert.
»Dann kann es Antoine also nicht gewesen sein«, folgerte Jo.
»Hast du das vermutet?«
»Nachdem… nachdem ich die Postkarte bekommen hatte. Ich hatte nicht viel geschlafen und dachte, dass er es vielleicht gewesen sein könnte… Ich schäme mich dafür, aber ja …«
»Wenn ich mich recht erinnere, schwitzte Antoine stark, nicht wahr?«
»Ja. In Stresssituationen lief ihm der Schweiß in Strömen über den Körper. Man hätte glauben können, er wäre unter einen Wasserstrahl geraten.«
»Dann war er es nicht. Es sei denn, er hätte sich sehr verändert … Aber immerhin ist dir der Gedanke gekommen.«
»Ich schäme mich so …«
»Ich kann dich verstehen, sein Wiederauftauchen ist ja auch wirklich merkwürdig. Entweder hat er die Karte geschrieben und jemanden gebeten, sie nach seinem Tod abzuschicken, oder er lebt und treibt sich irgendwo in deiner Nähe herum. Wenn man deinen Mann und seinen Sinn für Theatralik kennt, ist alles vorstellbar. Er hat sich immer so viel vorgemacht. Er träumte davon, unglaublich groß und bedeutend zu sein! Vielleicht wollte er seinen Tod in die Länge ziehen wie diese Schmierenkomödianten, die auf der Bühne Stunden brauchen, bis sie endlich gestorben sind, und ihren Monolog endlos ausdehnen, um den anderen die Schau zu stehlen.«
»Du bist gemein, Shirley.«
»Für Menschen wie ihn ist der Tod eine Beleidigung; von einer Sekunde auf die andere bist du weg, man vergisst dich, verscharrt dich in einem Loch, und schon bist du ein Niemand.«
Sie war in Fahrt geraten, und Joséphine konnte sie nicht mehr bremsen.
»Mit dieser Karte gönnt sich Antoine eine zusätzliche Scheibe Leben. Er hindert euch daran, ihn zu vergessen, man redet wieder über ihn.«
»Es war ein Schock für mich, das kannst du mir glauben… aber Zoé gegenüber ist es grausam. Sie glaubt felsenfest daran.«
»Das ist ihm doch völlig egal! Er ist viel zu egoistisch. Ich hatte noch nie eine besonders hohe Meinung von deinem Mann.«
»Hör auf! Er ist tot!«
»Das hoffe ich doch. Fehlte ja bloß noch, dass er irgendwann vor eurer Tür aufkreuzt!«
Joséphine hörte das Pfeifen eines Teekessels. Shirley schien das Gas abzudrehen, denn das Pfeifen erstarb mit einem schrillen Seufzen. Tea time . Joséphine sah Shirley in ihrer Küche, das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt, wie sie das fast kochende Wasser über die duftenden Blätter goss. Sie besaß eine ganze Sammlung verschiedener Teesorten in bunten Metalldosen, die ihre betörenden Düfte freigaben, sobald man den Deckel öffnete. Grünen Tee, roten Tee, schwarzen Tee, weißen Tee, Prince Igor, Tsar Alexander, Marco Polo. Dreieinhalb Minuten ziehen lassen, dann nahm Shirley die Blätter aus der Kanne. Sie achtete penibel auf die Einhaltung der Ruhezeit.
»Und Lucas gleichgültige Reaktion… was soll ich da sagen?«, wechselte Shirley, ohne sich ablenken zu lassen, das Thema. »Er war von Anfang an so, und du hältst ihn auf liebevoller Distanz. Du hast ihn auf ein Podest gestellt, du schwenkst Weihrauch und Myrrhe und wirfst dich vor ihm auf die Knie. Das hast du mit Männern schon immer gemacht, du entschuldigst dich dafür, dass du atmest, du dankst ihnen dafür, dass sie ihren Blick auf dich herabsenken.«
»Ich glaube, ich mag es nicht, wenn man mich liebt …«
»… aber? Los, komm schon, Jo …«
»… aber gleichzeitig kommt es mir so vor, als hungerte ich die ganze Zeit nach Liebe.«
»Du solltest etwas für dich tun.«
»Du hast recht … Und genau das habe ich mir auch vorgenommen.«
Joséphine erzählte Shirley, was ihr klar geworden war, als sie zu den Sternen aufgeschaut und mit dem Großen Wagen gesprochen hatte.
»Du sprichst immer noch mit den
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