Der langsame Walzer der Schildkroeten
Sternen?«
»Ja.«
»Was soll’s … Das ist genauso gut wie eine Therapie, aber dafür gratis.«
»Ich bin ganz sicher, dass er mich da oben hört und mir antwortet.«
»Wenn du das glaubst … Ich brauche mich nicht zu den Sternen hochzuziehen, um zu wissen, dass deine Mutter eine Kriminelle ist und du ein blauäugiges Gänschen, das seit seiner Geburt auf sich herumtrampeln lässt.«
»Ich weiß, das ist mir jetzt auch bewusst geworden. Mit dreiundvierzig … Ich gehe zur Polizei. Du hast recht. Es tut so gut, mit dir zu reden, Shirley. Wenn ich mit dir rede, wird plötzlich alles so klar.«
»Es ist immer einfacher, die Dinge klar zu sehen, wenn man nicht selbst betroffen ist. Und was macht das Schreiben, geht es voran?«
»Kann man nicht behaupten. Ich drehe mich im Kreis. Ich suche ein Thema für einen Roman, aber ich finde keines. Tagsüber fange ich tausend Geschichten an, und nachts lösen sie sich wieder in Luft auf. Die Idee zur Demütigen Königin ist mir gekommen, als ich mit dir geredet habe, weißt du noch? Wir saßen in meiner Küche in Courbevoie. Du solltest zurückkommen und meine Hand halten …«
»Trau dir doch auch einmal etwas zu.«
»Selbstvertrauen ist nicht gerade meine Stärke …«
»Es hat doch keine Eile.«
»Ich sitze aber nicht gern einfach so herum.«
»Dann geh ins Kino, geh spazieren, beobachte die Leute in den Straßencafés. Lass deine Fantasie schweifen, und irgendwann fliegt dir die Idee für deine Geschichte zu.«
»Eine Geschichte über einen Mann, der nachts im Park einsame Frauen ersticht, und einen tot geglaubten Ehemann, der Postkarten verschickt!«
»Warum nicht?«
»Nein! Ich will das alles vergessen. Ich konzentriere mich jetzt wieder auf meine Habilitation.«
»Worauf?«
»Auf meine Habilitation.«
»Und was soll das sein, diese Habi…?«
»Das ist eine umfangreiche Zusammenstellung, bestehend aus einer wissenschaftlichen Arbeit, der Habilitationsschrift, und all deinen früheren Arbeiten, Aufsätzen und Vorträgen, die du vor einer Jury präsentierst. Das Ganze ergibt einen ziemlichen Brocken. Ich habe schon fast siebzehn Kilo Papier zusammen!«
»Und wozu soll das gut sein?«
»Um Doktoranden betreuen zu dürfen. Auf einen Lehrstuhl berufen zu werden …«
»Und wahnsinnig viel Geld zu verdienen!«
»Nein! Universitätsprofessoren lockt nicht das Geld. Sie verachten es sogar. Ein Lehrstuhl ist die Krönung einer wissenschaftlichen Karriere. Man wird zu einer Koryphäe, die Leute behandeln einen mit Respekt, Wissenschaftler aus der ganzen Welt reisen an, um mit einem zu reden. Genau das, was ich brauche, um mein ramponiertes Selbstbild wieder aufzupolieren.«
»Joséphine, du bist großartig!«
»Immer mit der Ruhe, noch ist es nicht so weit! Ich habe noch zwei, drei Jahre Schufterei vor mir, ehe ich meine Arbeit präsentieren kann.«
Und das ist dann noch einmal eine ganz andere Geschichte. Dann gilt es, seine Arbeit vor einer Jury zu verteidigen, die sich größtenteils aus missmutigen alten Machos zusammensetzt. Das gesamte Dossier wird zerpflückt, und beim ersten Fehler werfen sie einen raus. An diesem Tag tut man gut daran, einen schlecht geschnittenen Rock und Sandalen zu tragen, die Beine sollten möglichst haarig sein und die Achselhöhlen buschig wie ein Porreestrunk.
Als hätte Shirley ihre Gedanken gelesen, rief sie: »Jo, du bist eine Masochistin!«
»Ich weiß. Aber das ist auch ein Punkt, an dem ich arbeiten will. Ich will lernen, mich zu wehren! Bei meiner kleinen Unterhaltung mit den Sternen habe ich jede Menge guter Vorsätze gefasst!«
»Die Milchstraße hat dir offenbar den Kopf zurechtgerückt! Und wo bleibt in diesem ganzen Tumult aus grauen Zellen dein Liebesleben?«
Joséphine errötete.
»Wenn ich meine alten Schwarten gewälzt und Zoé ins Bett geschickt habe …«
»Dachte ich’s mir doch: platt wie Zigarettenpapier!«
»Es kann ja nicht jeder mit einem Mann in Schwarz rumvögeln!«
»Touché!«
»Was ist aus dem eigentlich geworden?«
»Ich kann ihn nicht vergessen. Es ist schrecklich. Ich habe beschlossen, ihn nicht mehr zu treffen, mein Herz will nicht mehr, mein Kopf weigert sich, aber jede Pore meiner Haut schreit vor Verlangen. Soll ich dir was sagen, Jo? Liebe entsteht zwar im Herzen, aber sie lebt unter der Haut. Und er lauert immer noch unter meiner Haut. Irgendwo im Hinterhalt. Ach, Jo, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich ihn vermisse …«
Manchmal, erinnerte sich Shirley, kniff er
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