Der langsame Walzer der Schildkroeten
alles schief. Wenn man jemandem Blumen schenkt, überreicht man sie doch auch nicht mit den Stielen nach oben. Aber ich mache es so mit Gefühlen, ich drücke sie verkehrt herum aus.«
Sie starrte unverwandt auf den kleinen Stern. Es schien ihr, als leuchte er auf, verlösche, leuchte wieder auf, als wolle er sagen: Na los, mein Schatz, rede, ich höre dir zu.
Papa, mein Leben ist das reinste Chaos geworden. Und ich versinke darin.
Weißt du noch, wie ich als kleines Mädchen beinahe ertrunken wäre, wie du hilflos am Strand standest, weil du nicht schwimmen konntest … Weißt du das noch?
Ich muss etwa sieben Jahre alt gewesen sein. Das Meer war still, als Maman, Iris und ich losgeschwommen sind. Und dann kam mit einem Mal Wind auf, immer höher und höher wurden die Wellen, die Strömung zog uns aufs offene Meer hinaus, und du warst nur noch ein winzig kleiner Punkt am Strand, der außer sich vor Angst mit den Armen fuchtelte. Wir würden ertrinken. Und Maman beschloss, Iris zu retten. Sie hat sie sich unter den Arm geklemmt und zum Ufer gezogen. Als mir klar wurde, dass sie mich einfach zurückließ, versuchte ich, ihr hinterherzuschwimmen, mich an ihr festzuklammern, doch sie drehte sich um, schrie, lass mich los, lass mich los, und stieß mich weg. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, wieder ans Ufer zu gelangen, ich weiß es nicht. Es war, als ob mich eine Hand packte und ans Ufer zöge.
Ich weiß, dass ich beinahe ertrunken wäre.
Und heute ist es wieder so. Die Strömung ist zu stark, sie reißt mich zu weit hinaus. Ich bin traurig, Papa. Traurig, weil Iris wütend auf mich ist, weil mich ein Unbekannter überfallen hat, weil mein Mann wider alles Erwarten zurückkehrt, weil Luca so gleichgültig reagiert hat. Das ist zu viel für mich. Ich bin nicht stark genug.
Der kleine Stern war plötzlich nicht mehr zu sehen.
Willst du damit sagen, dass ich grundlos jammere, dass das alles doch gar nicht so schlimm ist? Das ist nicht fair. Das weißt du genau.
Der kleine Stern begann wieder zu leuchten.
Ah, du erinnerst dich. Du hast es nicht vergessen. Ich habe einmal überlebt, werde ich auch diesmal überleben?
So ist das Leben.
Meine Güte, das Leben muss für vieles herhalten. Nie gönnt es einem eine Ruhepause, immer wieder treibt es einen zurück ans Werk.
Wir sind nicht auf der Erde, um Däumchen zu drehen.
Das tue ich doch gar nicht. Ich schufte wie eine Besessene. Alles lastet auf meinen Schultern.
Das Leben hat es auch gut mit mir gemeint? Du hast recht.
Das Leben wird es auch weiterhin gut mit mir meinen? Du weißt genau, dass mir das Geld egal ist, dass mir der Erfolg egal ist, dass ich die Liebe vorziehen würde, einen Mann, den ich lieben und achten kann. So allein richte ich doch nichts aus.
Er wird kommen, er ist da, ganz in deiner Nähe.
Wann, Papa? Wann? Sag es mir.
Der kleine Stern antwortete nicht mehr.
Joséphine vergrub den Kopf zwischen ihren Knien. Sie lauschte dem Wind, lauschte der Nacht. Klösterliche Stille hüllte sie ein, und sie suchte darin Geborgenheit. Sie stellte sich einen langen Kreuzgang vor, grobe Steinplatten am Boden, runde Pfeiler aus hellem Stein, ein Tonnengewölbe mit endlos aufeinanderfolgenden Rundbögen und in der Mitte ein grüner Garten. Sie hörte die hellen Glocken, die in der Ferne läuteten und in regelmäßigen Abständen ihren hellen Klang in die Welt hinaussandten. Ein Rosenkranz glitt durch ihre Finger, sie sprach Gebete, die sie gar nicht kannte. Komplet, Vesper und Matutin, eine Liturgie, die sie selbst erfand und an die Stelle des Stundengebets setzte. Sie schob ihre Ängste von sich, überließ sich dem Wind, lauschte dem Lied, welches das sanfte Rauschen der Zweige ihr zuraunte, sang leise vor sich hin.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Vielleicht findet Luca das Ganze nicht schlimm, weil ich es selbst nicht schlimm finde.
Luca schenkt mir nicht mehr Aufmerksamkeit, weil ich mir selbst keine Aufmerksamkeit schenke.
Luca behandelt mich so, wie ich mich selbst behandle.
Er hat die Gefahr nicht gespürt, aus meiner Stimme nicht die Angst herausgehört, er hat die Messerstiche nicht gefühlt, weil ich sie selbst nicht gefühlt habe.
Ich weiß, dass es mir zugestoßen ist, aber ich empfinde nichts dabei. Man sticht auf mich ein, aber ich renne nicht los, um Anzeige zu erstatten, Schutz, Rache oder Beistand einzufordern. Man sticht auf mich ein, und ich schweige.
Alles gleitet
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