Der langsame Walzer der Schildkroeten
meinen Vorträgen. Die Arbeit beruhigt mich. Sie fesselt meinen Geist, hält ihn davon ab, in düstere Gedanken abzuschweifen. Auch das Kochen lenkte sie zurück zu ihren geliebten Forschungen. Wir haben nichts erfunden, dachte Joséphine, während sie sich die Finger an den Kastanien wund rieb. Schon im Mittelalter existierten Fast-Food-Lokale. Nicht jeder besaß eine eigene Küche, dafür waren die Wohnungen in den Städten zu klein. Die Junggesellen und Witwer aßen außer Haus. Es gab professionelle Speisewirte, »Garköche« genannt, die auf der Straße Tische aufstellten und Würste, kleine Pasteten und herzhafte Torten zum Mitnehmen verkauften. Die Vorläufer von Hotdogs und McDonald’s. Die Küche war ein bedeutsamer Faktor des alltäglichen Lebens. Die Märkte waren gut bestückt, Olivenöl aus Mallorca, Flusskrebse und Karpfen aus der Marne, Brot aus Corbeil, Butter aus der Normandie, Speck vom Mont Ventoux, all das erreichte die Markthallen von Paris. In den begüterten Häusern gab es einen Küchenmeister, der jedem seine Aufgabe zuwies und die Küchenjungen überwachte. Die Köche hatten Spitznamen wie etwa »Weichbirne« oder »Gierschlund«. Die Rezepte wurden in religiösen Zeitangaben aufgeschrieben: Man briet etwas »von der Vesper bis zum Abend«, kochte Fleischravioli zwei Vaterunser lang, Nüsse drei Ave-Maria. Die Küchenjungen sprachen Gebete, überwachten den Koch- oder Bratvorgang, probierten, ob die Speisen gar waren und griffen erneut zu ihrem Rosenkranz. Der Hochadel schmückte seine Mahlzeiten mit Blattgold. Die Köche bemühten sich, farbige Gerichte zuzubereiten, in Rotwein geschmortes Wildragout, weiße Käsetarte und Kamelinsauce zu gebratenem Fisch. Farbe regte den Appetit an, weiße Speisen waren Kranken vorbehalten, die es zu schonen galt. Alle Gerichte wechselten je nach Jahreszeit die Farbe: Kaldaunensuppe war im Herbst braun und im Sommer gelb. Als Gipfel der Raffinesse galt die italienische »himmelblaue Soße«. Und um den Tafelnden zu gefallen, zeichnete der Koch ihre Wappen auf Speisen in Gelee und verzierte sie mit Granatapfelkernen oder Veilchenblüten. Er erfand »verkleidete Gerichte«, die eines Horrorfilms würdig gewesen wären. Er gestaltete Fabelwesen oder humorvolle Szenen, indem er Teile unterschiedlicher Tiere zusammensetzte. Der behelmte Hahn etwa stellte einen Ritter mit Hahnenkopf dar, der auf einem Spanferkel ritt. Es gab auch überraschende Zwischengänge: Man steckte lebendige Vögel in eine Pastete aus Brotteig, deren Deckel beim Servieren abgehoben wurde, und die Vögel flatterten auf und erschreckten die entzückten Gäste. Das sollte ich auch einmal versuchen, sagte sich Jo, die ihr Lächeln wiedergefunden hatte.
Ihre Sorgen verflogen, wenn sie ins zwölfte Jahrhundert zurückkehrte. In die Zeit der Hildegard von Bingen. Man konnte ihr kaum entgehen, denn Hildegard interessierte sich für alles: Pflanzen, Ernährung, Musik, Medizin, die Stimmungen der Seele, die auf den Körper wirken, ihn schwächen oder stärken können. »Folgt der Mensch dem Streben der Seele, so wird sein Handeln gut sein, folgt er aber dem Streben des Leibes, wird es schlecht sein.«
»Gewürztes Hackfleisch. Die Kastanien mit dem Hackfleisch, der gehackten Leber, dem gehackten Herzen, Thymian, Salz und Pfeffer vermengen.« Ich muss mich wieder an meine Habilitation setzen, zu einem neuen Roman habe ich keine Idee. Und auch keine Lust. Aber irgendwann wird der Anfang einer Geschichte kommen, mich bei der Hand nehmen und mich zum Schreiben bringen.
Ich habe doch Zeit, sagte sie sich, während sie sich daranmachte, die Kastanien zu schälen, wobei sie darauf achtete, sich nicht in die Finger zu schneiden. Details sind wichtig, murmelte sie, Details versinnbildlichen, sie verströmen einen Duft, eine Farbe, eine Atmosphäre. Indem man Details zusammensetzt, rekonstruiert man eine Geschichte, die Geschichte. Durch Ausgrabungen in bescheidenen Bauernhäusern hat man ganze Bereiche des mittelalterlichen Alltagslebens wiederentdeckt. Auf diese Weise hat man mehr erfahren als durch die Suche in Burgen. Sie dachte an jene alten Tonkrüge, auf deren Boden man Spuren von Karamell gefunden hatte. Im Kloster Cluny hatte man Wasserleitungen, Latrinen und der Körperreinigung dienende Räume freigelegt, die heutigen Badezimmern glichen.
Monsieur und Madame van den Brock hatten sie nach dem Tod von Madame Berthier aufgesucht. Feierlich hatten sie an ihrer Tür geläutet. Sie exzentrisch,
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