Der langsame Walzer der Schildkroeten
übrigen Bewohner, die im Hinterhaus, dem sogenannten Haus B, lebten, kannte sie nicht. Dort wohnten mehr Leute als im Haus A, wo es nur eine Wohnung pro Stockwerk gab. Im Haus B hingegen waren es drei pro Etage. Iphigénie hatte ihr erzählt, dass die Bewohner von Haus B die von Haus A nicht ausstehen konnten, weil diese reicher seien als sie, und dass es auf den Eigentümerversammlungen regelmäßig zu heftigsten Auseinandersetzungen komme, bei denen die übelsten Schimpfworte ausgetauscht würden. Doch letztendlich trügen die As jedes Mal den Sieg davon, zum großen Leidwesen der Bs, denen immer neue Kosten und Arbeiten auferlegt würden, die sie nicht bezahlen wollten.
Ihr Blick fiel auf die große Ikea-Uhr an der Wand: halb sieben! Hortense, Gary und Shirley würden bald nach Hause kommen. Sie waren losgezogen, um letzte Besorgungen zu erledigen. Zoé hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie bereitete ihre Geschenke vor. Seit der Ankunft der Engländer summte das Haus vor Geräuschen und Lachen. Das Telefon hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Sie waren am Vortag eingetroffen. Stolz hatte Joséphine ihnen die Wohnung gezeigt. Hortense hatte die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet und sich mit weit ausgebreiteten Armen auf ihr Bett geworfen, home sweet home! Ihr freudiger Ausruf hatte Joséphine tief bewegt. Shirley hatte nach einem Whisky verlangt, während Gary mit seinen Ohrstöpseln in den Ohren auf dem Sofa saß und fragte: »Was gibt’s denn heute Abend zu essen, Jo? Hast du uns etwas Leckeres gekocht?« Türen knallten, Stimmen schallten durcheinander, aus jedem Zimmer klang Musik. Und Joséphine erkannte, was sie an ihrer Wohnung nicht mochte: Sie war zu groß für Zoé und sie. Erfüllt von Lachen, Rufen und geöffneten Koffern, wurde sie gemütlich.
Auf dem Herd wartete der große Topf mit Salzwasser darauf, dass sie die geschälten Kastanien hineinwarf. Kochen brachte sie immer auf andere Gedanken. Genau wie das Joggen. Wenn Hände und Beine sich bewegen, wird der Kopf frei von allen Sorgen, und es entspringen ihm tausend neue Ideen.
Jeden Morgen zog sie einen Jogginganzug und ihre Laufschuhe an und rannte um den See im Bois de Boulogne. Auf dem Weg zum See trabte sie gemächlich vor sich hin und beobachtete die Boule-Spieler, die Radfahrer, die anderen Jogger, wich Hundehaufen aus und sprang in Pfützen. Sie hüpfte für ihr Leben gern mit beiden Füßen in die mit Regenwasser gefüllten Kuhlen. Allerdings nur, wenn sie allein war und niemand ihr missbilligende Blicke zuwerfen konnte. Sie liebte das Geräusch, wenn ihre Schuhe auf das Wasser trafen, liebte des Spritzen des Wassers. Sobald sie »ihre Strecke«, wie sie sie etwas hochtrabend nannte, erreichte, beschleunigte sie ihr Tempo. Sie brauchte fünfundzwanzig Minuten für eine Runde um den See. Dann blieb sie außer Atem stehen und absolvierte Dehnungsübungen, damit sie am nächsten Tag keinen Muskelkater bekam. Jeden Morgen verließ sie um zehn Uhr das Haus, und jeden Morgen begegnete sie um zwanzig nach zehn einem Spaziergänger, der ebenfalls den See umrundete. Die Hände in den Taschen, die Nase in einer marineblauen Seemannsjacke vergraben, eine Wollmütze bis über die Brauen gezogen, eine Sonnenbrille vorm Gesicht, einen dicken Schal um den Hals geschlungen. Er sah aus, als wäre er vollständig bandagiert. Sie hatte ihn den »unsichtbaren Mann« getauft. Er ging konzentriert, mit roboterhaften Schritten. Als folgte er den Anweisungen eines Arztrezepts: jeden Tag ein bis zwei Runden um den See, vorzugsweise morgens, Rücken gerade halten, dabei tief einatmen. Manchmal begegneten sie einander zweimal, wenn er sein Tempo beschleunigte oder sie eine zweite Runde um den See drehte. Seit mindestens zwei Wochen laufe ich nun schon, seit zwei Wochen treffen wir uns, und trotzdem ignoriert er mich. Nicht einmal ein Nicken, mit dem er zu erkennen gäbe, dass er meine Anwesenheit bemerkt. Er ist blass, mager. Wahrscheinlich hat er einen Entzug hinter sich. Oder Liebeskummer. Er hatte einen Autounfall und ist durch Verbrennungen dritten Grades entstellt. Er ist ein gefährlicher Krimineller, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Sie erfand tausend Geschichten. Warum spaziert ein Mann jeden Tag zwischen zehn und elf einsam und unbeirrbar um den See? In seinem Gang lag eine fast schon wilde Entschlossenheit, als klammerte er sich durch die Anspannung seiner Muskeln ans Leben oder begleiche eine Rechnung.
Ein Wassertropfen spritzte aus dem
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