Der langsame Walzer der Schildkroeten
Topf. Sie schrie auf und drehte die Temperatur herunter. Schüttete die erste Portion Kastanien ins Wasser und schälte die übrigen.
»Dreißig Minuten kochen lassen, dann nach und nach herausnehmen und die zweite Haut abschälen.«
Papa ritzte immer ein Kreuz in die Kastanien, damit sie sich leichter schälen ließen. Papa war derjenige, der jedes Jahr den Weihnachtstruthahn zubereitete. Kurz vor seinem Tod hatte er ihr sein Rezept anvertraut. Unterschrieben hatte er mit: »Der Mann, der seine Tochter und das Kochen liebt.« Er hatte »seine Tochter« geschrieben. Nicht »seine Töchter«. Dieses Detail war ihr nie zuvor aufgefallen. Dabei holte sie jedes Jahr am Heiligen Abend das handgeschriebene Blatt hervor. Ich war seine Lieblingstochter. Iris muss ihn eingeschüchtert haben. Mich nahm er auf den Schoß, um mir seine Platten vorzuspielen, Léo Ferré, Jacques Brel, Georges Brassens. Iris warf einen Blick zu uns herein, wenn sie durch den Flur ging, und zuckte mit den Schultern.
Ob Philippe kochen kann? Philippe. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, begann ihr Herz zu hämmern. Forget-me-not . Seine letzten Worte auf einem Bahnsteig im Juni. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Als sie gehört hatte, dass er am Heiligabend mit Alexandre allein sein würde, hatte sie ihn eingeladen.
Grenzen ziehen zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, Grenzen, die sie auf keinen Fall überschreiten würde. Es wird einfacher, wenn ich Regeln aufstelle. Ich mag Regeln, ich bin eine Frau, die sich an Gesetze hält. Die an der roten Ampel stehen bleibt. Man muss sich im Leben Grenzen setzen. Distanz schaffen zwischen sich und den anderen. Um zu überleben. Um sich selbst kennenzulernen. Um dieses verwirrende Gefühl zu verstehen, das mich zu ihm hinzieht, und es zu beherrschen. Wenn er nicht da ist, denke ich nicht an ihn. Aber sobald er in meine Nähe kommt, gerät alles durcheinander, dann entbrenne ich.
»Den Backofen zwanzig Minuten auf Stufe 7 vorheizen.« Schritt für Schritt hat sich unsere Beziehung verändert. Zu Beginn war ich eine Unsichtbare, doch mit der Zeit wurde ich zur Liebenswürdigen, Originellen, Besonderen, Begehrten, Verbotenen. Und dieser Mann, der mich anfangs erstarren ließ, hat sich als zugänglich, vertrauenswürdig, aufmerksam, anziehend und gefährlich herausgestellt. Ohne dass wir uns dessen bewusst waren, haben uns unsere Gefühle an den Rand eines Abgrunds geführt. Die weiße Kamelie auf dem Balkon ist die letzte Grenze, die überschritten wurde. Wenn ich sie gieße, denke ich an ihn. Sende ihm einen Kuss. Er weiß es nicht, und ich werde es ihm auch niemals sagen.
Er fände mich dusselig.
Und ich muss ja auch dusselig sein. Vittorio sagt es Luca schließlich jeden Tag. Triffst du dich heute mit deiner dusseligen Kuh? Was macht die dusselige Kuh an Weihnachten? Fährt sie in den Vatikan, um dem Papst die Füße zu küssen? Segnet sie das Brot, bevor sie es isst? Besprenkelt sie sich vor dem Vögeln mit Weihwasser? Luca sollte mir nicht erzählen, was er gesagt hat. Es ist so verletzend. Er sagt, Vittorio werde immer instabiler, seine Angst steigere sich von Tag zu Tag. Er spricht davon, sich liften zu lassen, aber dazu fehlt ihm das Geld. Pump doch deine dusselige Kuh an, sagt er, die stinkt vor Geld dank ihres Groschenromans. So eine dusselige Kuh lässt sicher mal ein paar Euro springen. Und das nennst du eine Schriftstellerin? Luca seufzte: Es ist nicht meine Schuld, dass ich Sie nicht mehr so oft sehen kann, er braucht mich.
In drei Kupfertöpfen siedeten die Möhren, die Rübchen und der Sellerie, die sie anschließend zu Pürees verarbeiten würde. Bald wären die Kastanien gekocht. Als Vorspeise hatte sie Gänseleberpastete vorgesehen. Und Wildlachs in Scheiben. Zoé liebte Wildlachs. Sie hatte einen sehr feinen Geschmackssinn und brauchte nur das blasse oder glänzende Fleisch zu sehen, um zu erkennen, ob ein Fisch köstlich, ganz ordentlich oder schlecht schmecken würde. Vor der Auslage des Fischhändlers rümpfte sie die Nase. Das war ihr Warnsignal: »Der ist nicht gut, Maman. Zuchtlachs, wo der eine direkt am Hintern des anderen schwimmt und seinen Dreck frisst.« Zoé hatte einen ausgeprägten Geschmacks- und Geruchssinn, sie grübelte lange, um eine Farbe genau benennen, ein Geräusch perfekt nachahmen zu können, sie schloss die Augen und stellte sich mit der Zunge schnalzend die köstlichsten Aromen vor. Sie liebte den Beginn des Winters mit seiner Vielfalt an
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