Der langsame Walzer der Schildkroeten
Nerve!« , stöhnte Hortense. »Die ist das? Ich bin erledigt!«
»Wieso denn, Schätzchen?«
Er hatte ein Taxi herangewinkt, es hielt vor ihnen an.
»Weil ich die Absicht habe, ihren Platz einzunehmen!«
An diesem Sonntag, dem 24. Mai, war Mylène Corbier wie immer auf ihrem Posten. Sie hatte den Fernseher gegen ein großes Fernglas eingetauscht und spionierte ihren Nachbarn hinterher. Sie konnte es kaum erwarten, abends aus dem Büro nach Hause zu kommen und sich in das Leben der anderen einzuschleichen. Sie leckte sich die Lippen, schrie leise auf oder schnalzte missbilligend. Wenn sie ihnen begegnete, lachte sie leise in sich hinein. Ich weiß alles über euch, dachte sie, ich könnte euch anzeigen, wenn ich wollte …
An diesem Morgen hatte es im fünften Stock eine Razzia gegeben, und ein Ehepaar war verhaftet worden. Zwei arme Teufel, die von einem Trupp Polizisten abgeführt worden waren, deren Stiefelabsätze auf den Boden knallten, als Warnung für die Nachbarn, ja nicht gegen das Gesetz zu verstoßen. Monsieur und Madame Wang zahlten die Steuer nicht, die für ein zusätzliches Kind erhoben wurde. Man hatte herausgefunden, dass sie zwei Kinder hatten, von denen sie eines versteckten, wenn Besuch kam. Der kleine Junge durfte die Wohnung nicht verlassen, aber manchmal schlich er sich heimlich hinaus, ohne dass seine Eltern etwas bemerkten. Dabei trug er die Kleider seiner Schwester. Und das hatte ihn verraten. Er war klein und zierlich, seine Schwester hingegen eher kräftig. Ihre Kleidung schlackerte an ihm wie ein Dinosaurierkostüm an einem Maikäfer. Mylène hatte die beiden Kinder schon vor längerer Zeit bemerkt. Sie betete, dass der Kleine nicht entdeckt würde. Er hatte große, ängstliche schwarze Augen und den Kopf voll dichtem, abstehendem Haar. Sie hörte gar nicht mehr auf zu beten. Sie hatte Angst. Mister Wei ließ sie beschatten, da war sie sich ganz sicher. Sie hatte versucht, Marcel Grobz zu erreichen, aber er reagierte nicht auf ihre Anrufe.
Sie wollte zurück nach Frankreich. Ich halte das Alleinsein nicht mehr aus, ich halte es nicht mehr aus, die ganze Zeit nur zu arbeiten, ich halte es nicht mehr aus, dass die Leute mir ständig an die Nase fassen, weil ich Ausländerin bin, und ich halte ihre blöden Karaoke-Sendungen im Fernsehen nicht mehr aus! Ich möchte zurück in mein sanftes Anjou!
Die Sonntage waren furchtbar. Sie blieb so lange wie möglich im Bett. Dehnte das Frühstück aus, nahm ein Bad, las die Zeitungen, unterstrich eine Adresse, studierte ein Make-up, eine Frisur, suchte nach Ideen, die sie kopieren könnte. Dann machte sie ein bisschen Gymnastik. Sie hatte sich das Fitnessprogramm von Cindy Crawford gekauft. Die wäre nicht in China versauert. Die wäre schnell wieder abgereist.
Aber wie stelle ich das an? Soll ich mein Geld einfach hier lassen?
Kommt gar nicht infrage.
Soll ich ins französische Konsulat flüchten? Ihnen alles erzählen und einen neuen Reisepass beantragen? Wei wird davon erfahren und mich bestrafen. Womöglich lande ich dann in einem Sarg. Und ich habe keine Verwandten in Frankreich, die sich Sorgen um mich machen würden.
Ich versuche, Weis Misstrauen einzuschläfern … Damit er mir meinen Reisepass zurückgibt. Das Beste wäre, wenn ich zur Hälfte in Frankreich und zur Hälfte in China arbeiten könnte.
Aber das wäre auch keine Lösung. So könnte ich nie leben, hin und her gerissen zwischen Blois und Shanghai. Das weiß Wei ganz genau, und darum will er auch nicht, dass ich gehe.
Er sagte ihr ständig, dass sie labil sei, gestört. Natürlich würde sie labil, wenn er ihr das immer wieder einredete. Irgendwann würde sie es noch selbst glauben. Und an dem Tag wäre sie verloren. Endgültig verloren.
Jedes Mal endeten seine Ermahnungen damit, dass sie ihm vertrauen solle, ihm alles überlassen solle, ihm, der sie reich gemacht habe, ohne den sie immer noch ein Nichts wäre. Arbeiten Sie, arbeiten Sie, das ist gut für Ihre Gesundheit, wenn Sie nicht mehr arbeiten, dann … Er legte beide Hände auf den Rücken und imitierte eine Zwangsjacke. Zwei Ohrfeigen, die ihr die Trommelfelle zerrissen. Sie erschauerte und schwieg.
Gegen sieben Uhr abends drohte der Kummer sie zu überwältigen. Das war die schlimmste Zeit. Hinter einer grau-rosa Smogschicht ging die Sonne zitternd zwischen den Wolkenkratzern aus Glas und Stahl unter. Seit zehn Monaten hatte sie keinen blauen Himmel mehr gesehen! Sie erinnerte sich noch ganz genau daran, als
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