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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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konzentrieren konnte. Ausgrenzung durch Streifen. Eine schöne Anekdote, um ihr Kapitel über die Farben zu illustrieren.
    Im Spätsommer 1250 treffen die Brüder der seligsten Jungfrau Maria vom Berg Karmel in Paris ein. Sie tragen ein braunes Gewand und darüber einen weiß-braun oder weiß-schwarz gestreiften Mantel. Ein Skandal! Streifen haben im Mittelalter einen sehr schlechten Ruf. Sie sind böswilligen Menschen vorbehalten, Kain, Judas, den Treubrüchigen, den Verurteilten, den Bastarden. Und so werden die armen Brüder verspottet, als sie durch Paris wandern. Man nennt sie die »gestreiften Brüder«, sie werden zur Zielscheibe von verbaler und auch körperlicher Gewalt. Sie werden mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Man zeigt eine Hörnergeste oder bedeckt das Gesicht, wenn sie vorbeigehen. Sie wohnen in der Nähe des Beginenklosters und suchen Zuflucht bei den frommen Schwestern, doch die weigern sich, ihnen die Tür zu öffnen.
    Der Konflikt währt siebenunddreißig Jahre. 1287, am Tag der heiligen Maria Magdalena, legen sie endlich den Streifenmantel ab und nehmen stattdessen einen weißen Umhang an.
    »Zieh ein weißes T-Shirt an«, hatte Joséphine, zwischen dem dreizehnten und dem einundzwanzigsten Jahrhundert hin und her gerissen, geraten. »Das schmeichelt dem Teint und passt immer.«
    »Aha …«, hatte Zoé, nicht sehr überzeugt, geantwortet.
    Und sie war hinausgegangen, um ein neues Outfit anzuprobieren.
    Du Guesclin döste zusammengerollt neben ihren Füßen. Joséphine hatte ihre Bücher zugeklappt, ihre Nase gerieben, was bei ihr immer ein Zeichen großer Müdigkeit war, und hatte beschlossen, dass ein bisschen frische Luft ihr guttun werde. Sie war an diesem Morgen nicht joggen gewesen. Iris hatte nicht aufgehört zu jammern und immer wieder die gleichen Fragen zu ihrer ungewissen Zukunft gestellt.
    Sie stand auf, zog eine Jacke an, schaute kurz ins Wohnzimmer und gab Iris ein Zeichen, dass sie ausgehen würde. Iris hielt das Telefon kurz vom Ohr weg und wandte sich gleich wieder ihrem Gespräch zu.
    Joséphine schlug die Tür hinter sich zu und rannte die Treppe hinunter.
    Zorn erfüllte sie. Sie bekam kaum noch Luft. Muss ich mich denn in Zukunft in meinem Zimmer einschließen, um Ruhe zu haben? Auf Zehenspitzen übers Parkett schleichen, wenn ich mir einen Tee mache, um ihr Geschnatter nicht zu stören? Der Zorn breitete sich aus, umwölkte ihr Gehirn. Iris hatte nicht einen Finger gerührt, um den Frühstückstisch zu decken oder abzuräumen. Sie hatte darum gebeten, dass man ihr Brot toastete, goldbraun, bitte, nicht verkohlt, und hinzugefügt: »Ihr habt nicht zufällig den leckeren Honig von Hédiard?«
    Sie überquerte die breite Straße und erreichte den Bois de Boulogne. Ach, fiel ihr auf, ich habe Lucas Plakat gar nicht gesehen! Es kam ihr seltsam vor, »Luca« zu sagen und nicht »Vittorio«. Ich muss daran vorbeigegangen sein, ohne es zu bemerken … Sie beschleunigte ihre Schritte und trat einen alten Tennisball weg. Du Guesclin warf ihr einen erstaunten Blick zu. Um sich zu beruhigen, dachte sie an ihre Arbeit über die Farben. An die Farbsymbolik. Das war ihr erstes Kapitel, ein allgemeiner Überblick, ehe sie tiefer in die Materie einstieg. Den brummigen Professor ködern, um sein Interesse zu wecken. Damit er die fünftausend Seiten schluckte, die darauf folgten … Blau war im Mittelalter Ausdruck der Melancholie. Es konnte auch eine Trauerfarbe sein. Mütter, die ein Kind verloren hatten, trugen achtzehn Monate lang die caerulea vestis , ein blaues Kleid. In der Ikonografie trägt die blau gekleidete Jungfrau Maria Trauer um ihren Sohn. Gelb war die Farbe der Krankheit und der Sünde. Das lateinische Wort galbinus beruht auf einer germanischen Wurzel, aus der sich auch das Wort »Galle« entwickelte. Sie blieb stehen und legte eine Hand an ihre Hüfte: Sie hatte Seitenstechen. Ihr schwoll die Galle, sie produzierte Gelb! Gelb, Farbe der Neider, der Geizkragen, der Heuchler, der Lügner und der Verräter. In dieser Farbe vereinen sich Krankheit des Körpers und Krankheit der Seele. Judas ist immer gelb gekleidet. Die mittelalterliche Gesellschaft hat seine Symbolfarbe auf alle jüdischen Gemeinschaften übertragen. Die Juden wurden verfolgt, in gesonderte Viertel, sogenannte »Ghettos«, abgeschoben. Die Konzilien sprachen sich gegen eine Heirat zwischen Christen und Juden aus und verlangten, dass Juden ein besonderes Kennzeichen trugen. Dieses entwickelte sich später

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