Der langsame Walzer der Schildkroeten
zum letzten Mal ein Stückchen Blau am Himmel zu sehen gewesen war: Es war ein Taifun gemeldet, und der stürmische Wind hatte die grauen Schleier weggeblasen. Sie erstickte hier, sie hielt es nicht mehr aus.
Dieser Sonntag, der 24. Mai, war genau wie alle anderen Sonntage.
Noch einer, seufzte sie.
Sie würde einen Brief schreiben. Auch das machte ihr keine Freude mehr. Früher hatte sie sich vorgestellt, sie sei Mutter, hatte sich eine ganze Geschichte ausgedacht, sie sei ins Ausland gegangen, um ihren Kindern die Ausbildung und schöne Kleider zu bezahlen. Aber mittlerweile zweifelte sie. Wozu sollte das gut sein, wenn sie ja doch für immer hier gefangen blieb?
Am Montagabend war sie mit einem Franzosen zum Essen verabredet, der in China Spielzeug herstellen ließ, das er anschließend an französische Einkaufsmärkte verkaufte. Er würde am Donnerstag zurück nach Paris fliegen. Sie wollte frische Informationen, die Nachrichten, die sie aus dem Internet fischte, genügten ihr nicht. Sie würde ihn fragen, wie die Straßen aussahen, welches Lied die Leute vor sich hin summten. Wer war der neue Star? Wer der Favorit dieser Saison? Und die neue CD von Raphaël? Und was war mit den Jeans? Immer noch Röhre oder mittlerweile Schlaghosen? Und das Baguette, war es teurer geworden? Das war ihr Leben, einzelne Scheibchen Leben, die man ihr über den Teller im Restaurant hinweg reichte. Ein Leben in Vertretung. Die Männer lernte sie übers Internet kennen. Sie hatte die Qual der Wahl. Sie waren beeindruckt von ihrem Erfolg, ihrer Wohnung. Sie erwartete nichts von ihnen, nichts außer einer schnellen Erleichterung, und dann gingen sie wieder … Was hatte ihre Großmutter immer gesungen? Hab verloren meinen Schatz, werd ihn suchen müssen …
Aber ich kann nicht weg.
Ich muss bleiben.
Wenn es dunkel wurde, griff sie zum Fernrohr und spionierte ihre Nachbarn aus. Das hielt sie beschäftigt, bis es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Jedes Mal, wenn sie sich hinlegte, sagte sie sich, morgen wird alles besser, morgen rufe ich Marcel Grobz noch einmal an, irgendwann muss er mir ja antworten, er wird einen Weg finden, mein Geld hier herauszuholen.
Marcel Grobz … Er war ihre letzte und einzige Hoffnung.
Nachdem Joséphine den ganzen Sonntag an der Geschichte der gestreiften Mäntel der Karmeliter gearbeitet hatte, beschloss sie am späten Nachmittag, eine Pause zu machen und mit Du Guesclin nach draußen zu gehen.
Iris hatte den Nachmittag auf dem Sofa verbracht. Sie sah fern, telefonierte und cremte sich nebenbei Füße und Hände ein. Das Telefon hatte sie dabei zwischen Schulter und Kinn geklemmt. Sie macht mein Sofa ganz fettig, hatte Joséphine vor sich hin gebrummt, als sie zum ersten Mal an ihrer Schwester vorbeigekommen war, um sich in der Küche eine Tasse Tee zu machen. Beim zweiten Mal lag Iris immer noch telefonierend vor dem Fernseher. Michel Drucker hatte Céline Dion zu Gast. Iris massierte sich die Unterarme. Beim letzten Mal hatte sie die Position gewechselt und tat nun drei Dinge gleichzeitig: Sie sah fern, telefonierte und trainierte ihren Hintern.
»Nein … Es ist gar nicht so schlecht bei meiner Schwester. Die Einrichtung ist nicht besonders, aber mein Gott … Ich bin lieber hier als zu Hause bei Carmen, die sich fragt, wie sie ans Kreuz klettern und sich die Nägel einschlagen soll, um mich zu erlösen! Ich ertrage sie nicht mehr! Sie ist so was von anhänglich, die reinste Klette …«
Wütend hatte Joséphine den Tee in den Filter gestampft und die Hälfte des kochenden Wassers neben die Kanne gegossen.
Zoé hatte sie gefragt, ob sie ins Kino gehen dürfe, »zum Abendessen bin ich wieder da, versprochen, ich habe meine ganzen Hausaufgaben für Montag, Dienstag und Mittwoch schon gemacht.« Und wann nimmst du dir die Zeit, mir zu erklären, warum du so lange nicht mit mir geredet hast, warum du mich so lange gehasst hast?, dachte Joséphine. Zoé hatte sich sechsmal umgezogen, war jedes Mal ins Zimmer ihrer Mutter gestürmt und hatte gefragt: »Geht das so? Ist mein Hintern darin nicht zu fett? … Und was ist damit, sieht man darin auch nicht meine dicken Oberschenkel? … Was meinst du, Maman, lieber Stiefel dazu oder Ballerinas … Und soll ich die Haare zusammenbinden oder offen lassen?« Herein und hinaus rannte sie, begann die Frage schon im Flur, baute sich vor ihrer Mutter auf, kam mit immer neuen Outfits, immer neuen Fragen wieder, sodass Joséphine sich kaum auf ihre Arbeit
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